Das Klonschaf Dolly hat wahrscheinlich schon das Zeitliche gesegnet, das erste Retortenbaby ist inzwischen selbst Mutter geworden, auf natürliche Weise. Aktuell ist eine Debatte darüber entbrannt, ob man ein Kind zeugen darf, das dann seinem erkrankten Geschwisterkind als Spender dienen soll. In seiner 2003 uraufgeführten Oper "Das Gesicht im Spiegel", die jetzt in einer revidierten Fassung in Düsseldorf Premiere hatte, ist Jörg Widmann schon einen Schritt weiter gegangen, hier hat man einen Menschen komplett geklont. Ging es in der Romantik noch darum menschenähnliche Maschinen zu erzeugen, die dann auch beherrsch- und abschaltbar sein sollten, ist Justine, der Klon in Widmanns Oper, das perfekte Ersatzteillager, das niemals stirbt, unvergänglich ist. Zwar empfindet Justine Schmerz, aber alles, was man an Organen und Körperteilen entnimmt, wächst wieder nach.
Justine ist das Ebenbild von Patrizia, die zusammen mit ihrem Ehemann Bruno eine Biotechnologiefirma besitzt. Diese steht aufgrund plötzlicher Aktienkursabstürze vor dem Ruin. Mit Hilfe des Wissenschaftlers Milton gelingt es ihnen, einen Klon zu erzeugen. Die Firma ist gerettet. Damit Justine nicht erkennt, dass sie Patrizia gleicht, sind alle Spiegel überstrichen. Bruno verliebt sich in Justine. Milton muss erkennen, dass er Justines Gedanken nicht kontrollieren kann. Patrizia ist voller Eifersucht. Bruno kommt bei dem Versuch, den Konflikten zu entrinnen, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Justine ist über den Tod Brunos verzweifelt. Sie wird von Patrizia vor ihrem Spiegelbild damit konfrontiert, dass sie kein eigenständiger Mensch ist. Ihr Versuch, sich umzubringen, scheitert daran, dass sie als unsterblicher Klon geschaffen wurde.
Dieses Kammerspiel um vier Personen wird von einem Kinderchor begleitet, der das Geschehen einem griechischen Chor gleich kommentiert. Er tritt auch als erstes auf, beschreibt den Tagesablauf der Menschen in einer Großstadt, begleitet von einem Szenenbild, das in schnellem Verschieben der Bühnenebenen die Hektik des modernen Menschen mit seinen monotonen Bewegungen nachbildet. Das erinnert ein wenig an Metropolis, ein Metropolis des 21.Jahrhunderts. In einem grandiosen Bühnenbild in Schwarz, Weiß, Grau und Silber gehalten spiegelt sich die Kälte des modernen Geschäftsgebarens wider. Das Libretto begnügt sich mitunter mit Aufzählungen, für vollständige Sätze hat der moderne Mensch keine Zeit, Stichworte genügen und jeder weiß Bescheid, so ähnlich wie in dem Lied "MfG" von Fanta vier aus dem Jahre 1999. Die Börsenkurse fallen, stürzen ins Bodenlose. Es ward Morgen und Abend, der erste Tag. Am nächsten Tag wird Justine erschaffen und die Geschichte nimmt ihren Lauf.
Nach der Liebesnacht mit Justine sitzt Bruno mit Patrizia beim Frühstück in einem schräg aufgehängten Käfig, der an den Zugangskäfig in der Raubtiernummer eines Zirkus erinnert, haben sich nichts mehr zu sagen. Irgendwann hängt Bruno wie Prometheus an der Käfigwand und Justine muss immer wieder Purzelbäume schlagen, in ihrer Vergeblichkeit ein weiblicher Sisyphos. Der Käfig dient auch sonst als Verweis auf die Begrenztheit und Handlungsunfähigkeit des Menschen, so wenn in einer Szene namenlose menschliche Wesen dicht zusammengedrängt in kleine Käfige gesperrt sind. Das Bühnenbild von Jan Bammes wird durch Videoarbeiten des Düsseldorfer Künstlers Mischa Kuball ergänzt, die sich nahtlos einfügen.
Die Musik von Jörg Widmann verwendet neue Spieltechniken. Er integriert auch ungewöhnliche Instrumente wie Muschelhörner, Weingläser oder eine Spieluhr. Mitunter werden Alltagsgeräusche sowohl stimmlich als auch orchestral nachgeahmt und Instrument und Stimme übergangslos miteinander verschmolzen. Sarah Maria Sun als Patrizia, Anett Fritsch als Justine, James Bobby als Bruno und Stefan Heidemann als Milton wurden aber nicht nur stimmlich, sondern auch schauspielerisch stark gefordert, meisterten aber alles vorbildlich.
"Das Gesicht im Spiegel" wurde nach der Uraufführung in München von der Zeitschrift Opernwelt zur wichtigsten Uraufführung der Saison 2003/04 gewählt. In der Inszenierung von Georg Horres wird Orchester, Sängern und Chor bis hin zur Statisterie viel abverlangt, mit dem Effekt einer mehr als überzeugenden Gesamtleistung des ganzen Teams. Mit Recht gab es für diese bravouröse Aufführung vom Premierenpublikum begeisterten Applaus, wobei einige Wenige, die wohl mit den Dissonanzen neuer Musik Schwierigkeiten haben, den Saal bereits vorab verlassen hatten.
Patrizia: Sarah Maria Sun
Justin: Anett Fritsch
Bruno: James Bobby
Milton: Stefan Heidemann
Clara Schumann Jungendchor
Orchester: Düsseldorfer Symphoniker
Musikalische Leitung: Axel Kober
Inszenierung: Gregor Horres
Bühne: Jan Bammes
Kostüme: Yvonne Forster
Licht: Volker Weinhart
Videoinstallation: Mischa Kuball
Chor: Justine Wanat
Dramaturgie: Anne do Paço
Libretto: Roland Schimmelpfennig
Premiere 27. März 2010, um 19.30 Uhr im Opernhaus Düsseldorf