Diese drei Schwestern haben ihre Kindheit in der russischen Hauptstadt verbracht. Dann ist ihr Vater in ein entferntes Nest versetzt worden. Die Familie hat offenbar ihre Verpflanzung nie verkraftet. Die Eltern sind weggestorben, und nun hausen die drei Töchter todunglücklich mit ihrem Bruder in der Provinz, die sie als etwas Furchtbares verabscheuen. Der Bruder hätte Professor werden sollen, das hätte auch auf sie etwas Glanz geworfen und sie vielleicht sogar zurück in die Hauptstadt katapultiert. Stattdessen hat er sich dickgefressen, macht Spielschulden, begnügt sich mit einer Stelle in der Kreisverwaltung und heiratet eine Allerweltsfrau.
Es ist zum Verzweifeln. Nicht dass die Schwestern etwa lebensunfähig wären. Sie sind sogar berufstätig, die Mittlere ist, wenn auch mit einem ungeliebten Mann, verheiratet, die Jünste wird sich bald verloben. Trotzdem haben sie nicht die Kraft, ihre Lebens- starre zu durchbrechen, sie leiden unablässig an sich selbst und an der banalen Umwelt.
Etwas Großartiges möchten sie tun, etwas Ungewöhnliches, über den Tod Hinausweisendes . Das Symbolwort für diese Sehnsucht ist und bleibt Moskau. Dort wäre es vielleicht möglich. Wenn man nur erst wieder dort wäre!
Vorübergehend ist ein Offizierskorps am Ort stationiert Es mischt die verkümmernde Weiblichkeit ein wenig auf. Aber die Militärs verschwinden bald wieder, zurück bleibt erst recht das Gefühl der Trauer und der Bedeutungslosigkeit.
Am Schluss hält die Schwestern nur ein einziger Gedanke aufrecht. Dass sie die Vorgängerinnen einer besseren Zeit sind, einer Zeit, die es jedem Individuum erlauben wird, sich zu entfalten und selbst zu bestimmen.
Anton Tschechow hat das meisterhafte Stimmungsbild der russischen Stagnation im Zarenreich, der Ruhe vor dem Sturm, um die Wende zum 20. Jahrhundert geschrieben. 1901 fand die Pemiere in Moskau statt.
Es ist eins der meistgespielten Stücke der dramatischen Literatur. Oberspielleiter Sewan Latchinian inszenierte es jetzt am Rheinischen Landestheater Neuss, das in ein sehr ansprechendes neues Haus umgezogen ist . Ein schneeweisser, moderner, gerundeter Eckbau mit grosszügigem Eingangsbereich und Foyer, einem steil ansteigenden Zuschauerraum und einer sehr gut dimensionierten Schauspielbühne, auf die viele Städte neidisch sein könnten. Das Tschechow-Stück ist die erste reguläre Vorstellung in diesem Haus nach der Sylvesterproduktion.
Der Bühnenbildner Tobias Wartenberg schuf keinen wohnlichen Raum, sondern ein Sammelsurium verwohnter Gründerzeitmöbel und alter Haushaltsutensilien. Dahinter nackte Baumstämme, denen die Kronen brutal abgerissen worden sein müssen, und ein schwarzer Horizont.
In der Rumpelkammer überlebter Gesellschaftsformen agieren die Menschen und zeigen sehr intensiv dieses sich hinschleppende Leben, diese Verzweiflung, diese Ausbrüche und ihr Zusammenfallen. Immer wieder singen und spielen sie sehnsüchtig-melancholische russische Musik und träumen dann weiter von einer Erlösung, die nie kommen kann.
Es geht uns ans Herz, weil das Stück nicht nur ein zeitgebundener, sondern auch einen zeitloser Ausdruck des Leidens am Leben ist. In den besten Momenten sehen wir unsere eigene Schwäche, unsere Unfähigkeit, dem Leben die gewünschte Form zu geben, unser Scheitern und unsere unstillbare Hoffnung.
Die Inszenierung malt ein breites Bild der Tristesse und ihrer unfreiwilligen Komik, mit scharfen Akzenten auf Hysterien und Schreikrämpfen und Temperaments- Aufwallungen. Zuweilen gerät das Ganze etwas gespreizt, im Bestreben nach Vertiefung. Im Ganzen spielt das Ensemble mit einer musterhaften Hingabe, die für einzelne Schwächen entschädigt.
Die drei Schwestern (Kathrin Steinweg, Mareile Metzner und Juschka Spitzer) loten viele Aspekte weiblicher Unerfülltheit aus.Und auch die Männer geben ihrem verschiedenartigen Auftrumpfen meistens präzisen Ausdruck.
Besonders gefiel mir Steffen Schreier als tragikomischer Versager, als aufgedunsener, enttäuschender Bruder der drei Schwestern. Er spielt nicht nur die Erdenschwere, sondern auch die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und ist in seiner traurigen, sanften Beschwingtheit die ideale Tschechow-Figur. Illi Oehlmann trifft genau den Ton seiner durchschnittlichen, anmassenden Ehefrau.
Insgesamt eine beachtliche Aufführung und ein vielversprechender Start in eine neue Aera des Rheinischen Landestheaters.
Drei Schwestern von Anton Tschechow im Rheinischen Landestheater Neuss
Premiere 26. Januar 2001