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GESCHIEHT DIR RECHT: Die Spielzeit 2008/09 in den Münchner KammerspielenGESCHIEHT DIR RECHT: Die Spielzeit 2008/09 in den Münchner KammerspielenGESCHIEHT DIR RECHT: Die...

GESCHIEHT DIR RECHT: Die Spielzeit 2008/09 in den Münchner Kammerspielen

Wie sieht unser Zusammenleben in der heutigen Einwanderungsgesellschaft aus, und wie wollen wir in Zukunft leben? Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Wie steht es um die Dialektik von Recht und Freiheit? Welche Regeln des Zusammenlebens gibt es? Gelten die bisherigen Verabredungen noch oder müssen wir uns neue schaffen?

Wie gehen wir mit unserer Freiheit um? Wie lassen sich in einem Klima fortschreitender Entsolidarisierung Mitgefühl und Solidarität, Gerechtigkeit und Chancengleichheit installieren und schützen? Wie halten wir es mit Verbrechen und Strafen, mit Schuld und Sühne? Wie viel Lust steckt in Regelverletzungen, wie viel Last in unseren Freiheiten?

 

Die Politik der Inneren Sicherheit ist gekennzeichnet vom Verlust der Maßstäbe und von dem Alltäglichwerden der Maßlosigkeit. Ein Umbau scheint im Gange vom freiheitlichen Rechtsstaat hin zum schützenden Vorsorgestaat, der seine Bürger sichern will, indem sie nicht mehr als unverdächtig, sondern als potentiell verdächtig betrachtet werden. Unser Sicherheitsbedürfnis und das Freiheitsrecht müssen im Umgang mit den lokalen und globalen Risiken in ein Gleichgewicht gebracht werden - sonst wird der Rechtsstaat partiell ausgeschaltet.

 

Das Nebeneinander der vielen Religionen und Glaubensrichtungen zeigt uns seit Jahrhunderten in vielen Teilen unseres Globus, wie schwer es den Menschen fällt, die Andersgläubigen zu respektieren. Kriege und Terror dominieren auch hier vor einem friedlichen Nebeneinander oder gar Miteinander. Können auch hier die Freiheit schützenden Regeln gefunden werden? Werden Kirchen und Synagogen und Moscheen einmal selbstverständlich nebeneinander stehen können? Welche Normen sollen gelten, damit wir die sein können, die wir sein wollen?

 

In der Spielzeit 2008/09 stellen die Münchner Kammerspiele die hochaktuelle Frage nach den Gesetzen der Freiheit. Die klassischen Stücke von Shakespeare und Kleist, die Uraufführungen von Händl Klaus, Elfriede Jelinek und René Pollesch, die Stoffe von Kafka und Kieslowski im Schauspielhaus, die Uraufführungen und neuen Texte junger Autoren und Autorinnen im Werkraum, die beiden Kuratoren Schorsch Kamerun und PeterLicht im Neuen Haus, die Diskurse und das neue Stadtprojekt orientieren sich mit den Mitteln des Theaters an der Suche nach den goldenen Regeln für die beste Lebensform in unserer neuen Gesellschaft.

 

Hier die Übersicht über die kommende Spielzeit:

 

PREMIEREN IM SCHAUSPIELHAUS

 

Schauspielhaus

Der Prozess

Nach dem Roman von Franz Kafka

Regie: Andreas Kriegenburg

 

Premiere September 2008 im Schauspielhaus

 

Kostüme: Andrea Schraad. Dramaturgie: Matthias Günther.

 

K., ein Bankbeamter, unverheiratet und Untermieter in einer Pension, erlebt an seinem 30. Geburtstag eine Überraschung, die sein Leben verändern wird: Mitarbeiter einer mysteriösen Behörde verhaften K. am Morgen. Über den Anlass erfährt er zunächst nur, dass ein anonymes Gericht von der Schuld angezogen wird und Urteile auf Grundlage des Gesetzes fällt. Aber was ist das für ein Gesetz? Und K., so heißt es, sei prinzipiell schuldig, obwohl kein Verbrechen vorliegt. Trotzdem darf K. sein Leben in Freiheit wie bisher fortsetzen und auch seiner Arbeit nachgehen. Zunächst widerwillig, aber doch überzeugt, es handele sich um einen schlechten Scherz, spielt K. mit bei dieser Komödie. Ehe er sich versieht, befindet er sich in einem System, vielleicht in einer Verschwörung mit unklarem Ausgang. "Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede,alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, i hn in se iner Wohnung zu überfall en? Er neigte stets dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte." Von nun an setzt K. sich mehr oder weniger freiwillig physischen und psychischen Prüfungen aus, verwickelt sich in Widersprüche und windet sich in seinem Schicksal, das ein aussichtsloses Bemühen zu sein scheint. Eine Reihe junger sexuell verdächtiger Frauen und merkwürdiger älterer Männer mit Beziehungen scheinen ihm bei seinem bevorstehenden Prozess zu helfen, aber bei manchen Freunden braucht man keine Feinde mehr.

Der Prozess, der erste Roman Franz Kafkas, zwischen 1914 und 1915 entstanden und 1925 zum ersten Mal erschienen, ist Fragment geblieben und gehört zu jenen Werken der Verzweiflung, die das ausweglose Dasein des Einzelnen im Labyrinth einer anonymen Welt

veranschaulichen, einer Welt, die sich jeder Sinnsetzung entzieht.

 

Andreas Kriegenburg ist Oberspielleiter am Thalia Theater in Hamburg. Er hat an den Münchner Kammerspielen ORESTIE (eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2003), DIE NIBELUNGEN (Theatertreffen 2005), DREI SCHWESTERN (Theatertreffen 2007) und zuletzt LAND OHNE WORTE/BERLINER GESCHICHTE inszeniert.

 

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Schauspielhaus

Furcht und Zittern

Ein Singspiel von Händl Klaus, Lars Wittershagen

Regie: Sebastian Nübling

 

Uraufführung Oktober 2008 im Schauspielhaus

 

Bühne und Kostüme: Muriel Gerstner. Musikalische Leitung: Lars Wittershagen, Peter Pichler. Dramaturgie: Julia Lochte.

 

Alles beginnt mit einer Gesangsstunde. Manfred Horni singt mit seinem Schüler von Hahnenfuß und Rittersporn: "Doch als du die Blüte brichst,/grünt es noch, so weit du siehst./ All das Gras, wie leis es spricht." Eines nachts, viele Jahre später: Die Polizisten Stephanie Meier und Martin Kirchner suchen die Wohnung des Herrn Horni und seiner Frau Anneliese auf. Manfred Horni arbeitet mittlerweile als Makler. Er war zehn Jahre zuvor wegen Pädophilie zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden, hatte einen Hörsturz erlitten und seinen Beruf als Gesangslehrer aufgegeben. Er muss sich per Gerichtsbeschluss von Kindern fernhalten. Die beiden Polizisten teilen ihm und seiner Frau nun mit, dass auf dem Schrottplatz gegenüber ihres Hauses ein Kinderheim gebaut wird und Herr Horni, der so wieder in die Nähe von Kindern geriete, daher ausziehen müsse. Doch Manfred Horni weigert sich, seine Wohngegend zu verlassen und zieht mit seiner Frau auf die Straße. Dort bleiben sie, bewacht von den beiden Polizisten oder vielmehr von der Öffentlichkeit selbst. Unter allseitiger Beobachtung beginnt ein Spiel mit der Dialektik von Privatem und Öffentlichem, Verbrechen und Strafen, Lust und Leid, als eine Schar Kinder vorbeikommt und Herrn Horni vor den Augen aller auf die Probe stellt.

 

Händl Klaus ist ein Meister der genauesten Sprachkomposition. Mit FURCHT UND ZITTERN hat er im Auftrag der Münchner Kammerspiele und der RuhrTriennale ein neues Stück - sein erstes Singspiel - geschrieben, für das Trio Sebastian Nübling, Muriel Gerstner und Lars Wittershagen, der die Musik dazu komponiert. Dieses Team hat schon seine Stücke WILDE ODER DER MANN MIT DEN TRAURIGEN AUGEN und an den Münchner Kammerspielen DUNKEL LOCKENDE WELT (beide eingeladen zum Berliner Theatertreffen) zur Uraufführung gebracht.

Händl Klaus, 1969 in Rum/Tirol als Klaus Händl geboren, lebt in Wien, Berlin und Port am Bieler See. Er wurde 2004 in der Jahresumfrage von Theater heute zum besten Nachwuchsautor und 2006 zum Dramatiker des Jahres gewählt. Der Regisseur Sebastian Nübling setzt mit FURCHT UND ZITTERN und im Team mit der Bühnenbildnerin Muriel Gerstner und dem Musiker und Komponisten Lars Wittershagen seine Arbeit an den Kammerspielen fort, wo zuletzt HASS nach dem Film von Matthieu Kassowitz entstand. Das Trio arbeitet u.a. am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, am Theater Basel, an der Schaubühne Berlin und an der Staatsoper in Stuttgart.

 

Koproduktion mit der RuhrTriennale, Uraufführung im Salzlager Kokerei Zollverein, Essen, am 12. September 2008

 

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Schauspielhaus

Rechnitz (Der Würgeengel)

von: Elfriede Jelinek

Regie: Jossi Wieler

 

Uraufführung November 2008 im Schauspielhaus

 

Bühne und Kostüme: Anja Rabes. Musik: Wolfgang Siuda. Licht: Max Keller. Dramaturgie: Julia Lochte.

 

In der Nacht vom 25. März 1945 feierten auf Schloss Rechnitz, das unmittelbar an der österreichischen Grenze zu Ungarn liegt, SS-Offiziere, Gestapo-Führer und einheimische Getreue des Nazi-Regimes ein "Gefolgschaftsfest", auf dem getanzt und getrunken wurde und in dessen Verlauf fast 200 jüdische Zwangsarbeiter brutal liquidiert wurden. Der Ortsgruppenleiter verteilte an ausgewählte Gäste Waffen, die Juden mussten sich nackt ausziehen, wurden malträtiert und erschossen oder erschlagen. Gemäß Prozessakten des Landgerichts Wien aus der Nachkriegszeit waren auch die Besitzer des von der SS requirierten Schlosses, Graf und Gräfin Batthyány, beim Fest anwesend, als "Gastgeber der Hölle". Margit von Batthyány, geborene Thyssen-Bornemisza, war eine Enkelin des Stahlmagnaten August Thyssen. Sie ist wegen der Rechnitzer Mordnacht nie strafrechtlich verfolgt worden. Knapp vor der Besetzung des Schlosses durch die Rote Armee floh die Gräfin mit Zofe, Mann und Geliebten in die Schweiz, w idmete s ich fortan der Zucht von Rennpferden und starb 1989. Die Suche nach dem Ort des Massengrabes, in dem die Opfer dieser Nacht verscharrt wurden, ist bis heute erfolglos geblieben. In Rechnitz herrscht ein Klima der Angst - während der Ermittlungen in der Nachkriegszeit wurden Zeugen ermordet - und bis heute eine Kultur des geschwätzigen Verschweigens. Man redet zwar über jene Nacht, über Schüsse und über Schreie der Sterbenden, aber man verschweigt die Details. "Die Juden haben eine Klagemauer, wir haben eine Schweigemauer", sagte einmal ein Ortsbewohner.

 

Elfriede Jelinek versammelt in RECHNITZ (DER WÜRGEENGEL) eine kleine Gesellschaft von Boten, über keinen Zweifel erhabene Berichterstatter. In sprachlich furiosen Suchbewegungen, Schicht um Schicht abtragend, nimmt sie unermüdlich Grabungen vor, um sich dem Krater der Ungeheuerlichkeit dieser Tat und ihrer Verschleierung zu nähern. Jelinek versucht keine detailgenaue Rekonstruktion eines historischen Verbrechens, und dennoch wird jedes Detail dieser monströsen Geschichte zur kalkuliert unkontrollierten Roulettekugel in einem "Casino des Denkens", das die Bedingungen unserer gegenwärtigen Gesellschaft auslotet. Ein blitzheller Blick zurück auf die Topographie des Nazi-Terrors, zugleich eine Reise durch Jelineks Kopf, ein wilder Assoziationsfluss, rechts und links althergebrachte Gewissheiten einreißend. Elfriede Jelinek, 1946 in der Steiermark geboren, gehört zu den wichtigsten Schriftstellerinnen der Gegenwart und erhielt

2004 den Nobelpreis für Literatur.

 

Der Theater- und Opernregisseur Jossi Wieler hat an den Kammerspielen ALKESTIS (eingeladen zum Theatertreffen 2002), DAS FEST DES LAMMS, MITTAGSWENDE (eigeladen zum Theatertreffen 2005), DIE BAKCHEN, ULRIKE MARIA STUART und ÖDIPUS AUF KOLONOS inszeniert. Jossi Wieler, der durch seine ungewöhnlichen Inszenierungen von Stücken Elfriede Jelineks (WOLKEN.HEIM., ER NICHT ALS ER, MACHT NICHTS, ULRIKE MARIA STUART) als Spezialist für diese Autorin gelten kann, wird mit der Uraufführung von RECHNITZ (Der Würgengel) seine Zusammenarbeit mit der Autorin und den Kammerspielen fortsetzen.

 

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Schauspielhaus

Maß für Maß

von: William Shakespeare

Regie: Stefan Pucher

 

Premiere Januar 2009 im Schauspielhaus

 

Bühne: Barbara Ehnes. Kostüme: Annabelle Witt. Musik: Marcel Blatti. Video: Chris Kondek. Dramaturgie: Matthias Günther.

 

Wozu Gesetze? Statt mit der Last der Paragraphen leben die Bürger mit ihren Lastern und so lange sich keiner stört, kann jeder tun, was recht ist. Allerdings: wie viel Freiheit und wie viel ungezügeltes Leben kann ein Staat vertragen? Vienna droht Chaos und Untergang, denn die Stadt ist ein Sündenpfuhl, die Sitten sind verroht und die Moral ist im Eimer. Was tun? Die Stadt bräuchte einen Tugendwächter, der die Sittenlosigkeit rigoros bestraft, so wie es das Gesetz eigentlich vorsieht. Aber wer will unerbittliche Strenge gegen die Eigenart der menschlichen Natur anwenden? Viennas Herzog Vincentio jedenfalls ist ein nachsichtiger Herrscher, der den alten Gesetzen nicht traut, zu sehr ist er fasziniert vom Traum des freien Lebens und der individuellen Autonomie. Daher braucht Vincentio zum einen Urlaub zum anderen einen Stellvertreter, der statt seiner die Sache regelt. Vincentio übergibt die Regierungsgeschäfte mit allen Vollmachten seinem Statthalter Angelo, der die untergehen de Stadt wieder auf Kurs bringen soll. "Nicht tot war das Gesetz, geschlafen hat es nur. Jetzt ist das Gesetz erwacht", erklärt Moralapostel Angelo und säubert mit ungeahnter Energie die Stadt. Mit Stahlbesen wird die Sünde weggefegt, kein Bordell darf offen stehen und jegliches sexuelle Verlangen führt in die Katastrophe. Liebende, die nicht verheiratet sind, illegitim Kinder zeugen, verlieren den Kopf. So soll es jedenfalls mit Claudio geschehen, der ein junges Mädchen geschwängert hat. Rettung verspricht nur Claudios strenge Schwester Isabella, eine Novizin, die im Nonnenkloster weilt und eigentlich Angelos Moralvorstellungen teilt. Der Anblick dieser "reinen Seele" erregt Tugendwächter Angelo derart heftig, dass er zum unmoralischen Händler wird und das Leben des Bruders gegen eine Nacht mit ihr zum Tausch vorschlägt. Isabella möchte ihren Bruder lieber sterben sehen, als ihre Unschuld in dieser verdorbenen Welt zu verlieren. Aber es gibt noch eine andere Lösung, die kennt ein zweifelhafter Mönch, der i n Wahrhe it Herzog Vincentio ist, der Angelos Treiben undercover beobachtet. Shakespeare erzählt in MASS für MASS von Stellvertretern und Stellvertretungen, von Moralvorstellungen, die er gleichzeitig beschwört und entwertet.

 

Stefan Pucher erarbeitete verschiedene Performance-Projekte, unter anderem am TAT in Frankfurt/Main und mit der britischen Gruppe Gob Squad. 1999 begann er am Theater Basel mit DER KIRSCHGARTEN, einen viel beachteten Zyklus von Tschechow-Arbeiten. Am Schauspielhaus Zürich war er während der Christoph Marthaler-Direktion (2000-2004) Hausregisseur. Drei seiner Inszenierungen aus dieser Zeit, DREI SCHWESTERN, RICHARD III und HOMO FABER sowie OTHELLO am Deutschen Schauspielhaus Hamburg wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen. An den Münchner Kammerspielen hat er erstmals in der Spielzeit 2006/07 bei TRAUER MUSS ELEKTRA TRAGEN Regie geführt. Mit seinen Inszenierungen von DER STURM an den Münchner Kammerspielen (eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2008) und der KAUFMANN VON VENEDIG am Schauspielhaus Zürich hat Stefan Pucher einen Zyklus von Shakespeare-Bearbeitungen in der Übersetzung von Jens Roselt begonnen, den er mit MASS FÜR MASS fortsetzt.

 

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Schauspielhaus

Ein neues Stück

von: René Pollesch

Regie: René Pollesch

 

Uraufführung Februar 2009 im Schauspielhaus

 

Bühne und Kostüme: Janina Audick.

 

"Ich bin in einer Krise und jetzt ist die Frage, dient die wieder nur dazu, grundlegende Machtverhältnisse zu verschleiern, indem ich sie als Teil meiner Persönlichkeit wahrnehme oder ist das eine, in der ich mich grundsätzlich fragen muss, ob ich die Bioscheisse hier noch

als Menschen denken kann."

 

René Pollesch macht weiter. Nach SCHÄNDET EURE NEOLIBERALEN BIOGRAPHIEN und SOLIDARITÄT IST SELBSTMORD wird Pollesch als Autor-Regisseur einen neuen Theaterabend mit einer Gruppe von Schauspielern erarbeiten. Man sitzt zusammen, man diskutiert. Der Sturm in den Köpfen wird kanalisiert. Der Regisseur, der ein Autor ist, öffnet den Laptop, schreibt Sätze in den Computer. Es sind Theorien, Fundstücke, Problemkonstellationen in Sätzen und Textflächen, die mit Verzweiflung aufgeladen werden. Schauspieler sprechen die Sätze. Es wird diskutiert und verändert. Das, was die Schauspieler sprechen, ist nicht die Sprache einer Figur. Es ist ein Angriff auf die Gegenwart: Selbstbefragungen, Videoclips und Musikschleifen werden mit Hilfe alter Theatergenres wie Boulevard und Melodrama in einen neuen Rahmen gefasst und zu einer eigenen, unverkennbaren Text- und Theaterform überführt, die globale politische Themen und Fragestellungen mit persönlichen, emotionalen Erfahrungen verbindet: "Mein e Arbeit en leben von einer Kompe tenz für das, was meine Probleme sind, von meinem Wunsch, mich zu verorten, meinem Wunsch mich zu orientieren, und der damit verbundenen Energie. Das ist das einzige, was ich produzieren kann." (R.P.)

 

René Pollesch ist seit der Spielzeit 2001/2002 künstlerischer Leiter des Praters der Berliner Volksbühne. Die dort entstandene Prater-Trilogie wurde 2002 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Im gleichen Jahr wurde Pollesch in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute zum Dramatiker des Jahres gewählt. Bereits zweimal ist er mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet worden. Neben seiner Arbeit an der Berliner Volksbühne inszeniert René Pollesch seine eigenen Stücke u.a. am Burgtheater Wien, Schauspielhaus Stuttgart, Thalia Theater Hamburg und den Münchner Kammerspielen.

 

 

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Schauspielhaus

Drei Farben. Blau, Weiß, Rot.

Nach den Filmen von Krzysztof Kieslowski und Krzysztof Piesiewicz. In einer Fassung von Koen Tachelet

Regie: Johan Simons

 

Uraufführung März 2009 im Schauspielhaus

 

Bühne: Jens Kilian. Kostüme: Dorothee Curio. Licht: Max Keller. Dramaturgie: Koen Tachelet, Malte Jelden.

 

Ein pensionierter Richter sieht im Fernsehen den Bericht über ein Fährunglück. Eine Handvoll Überlebende werden geborgen: Julie, Olivier, Dominique, Karol, Valentine und Auguste sind alle Figuren aus Kieslowskis Filmtrilogie, die in der letzten Szene von ROT einen einzigen gemeinsamen Auftritt haben. Die drei Farben der Tricolore stehen bei Kieslowski für die drei zentralen Forderungen der französischen Revolution und des modernen Europas: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Nachdem diese Ideale im politischen Leben der westlichen Demokratien erreicht scheinen, sucht Kieslowski nach ihrer Umsetzung und Bedeutung im Privaten.

 

Blau/Freiheit: Bei einem Autounfall, den sie selbst nur knapp überlebt, verliert Julie ihre Tochter Anna und ihren Mann Patrice, einen berühmten Komponisten. Nach ihrer Genesung erfährt sie, dass Patrice eine Geliebte hatte, die jetzt ein Kind von ihm erwartet. Julie versucht verzweifelt, alle Spuren der Vergangenheit auszulöschen, aber bestimmte Fragmente der Musik ihres Mannes gehen ihr nicht aus dem Kopf.

Weiß/Gleichheit: Der polnische Friseur Karol muss Paris verlassen, weil seine Frau Dominique sich von ihm scheiden lässt. Im postkommunistischen Polen kommt er schnell zu Reichtum, kauft eine nicht mehr identifizierbare Leiche und inszeniert seinen eigenen Tod. Er lockt Dominique nach Polen und sorgt dafür, dass sie für seine fingierte Ermordung ins Gefängnis kommt.

Rot /Brüderlichkeit: Die Studentin Valentine überfährt einen Hund. Sie lässt ihn verarzten und findet schließlich seinen Besitzer, einen alten, verbitterten Richter, der sein Leben damit verbringt, Telefongespräche seiner Nachbarn abzuhören. Einer dieser Nachbarn ist der

Jurastudent Auguste, mit dem Valentine später gemeinsam von einer havarierten Englandfähre gerettet werden wird.

 

15 Jahre nach Erscheinen des letzten Teils der Trilogie, 13 Jahre nach Kieslowskis Tod und in einer politischen Welt, die sich immer weniger frei, gleich und brüderlich zeigt, machen die Münchner Kammerspiele Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erneut zum Gegenstand einer künstlerischen Untersuchung. Der niederländische Regisseur und Leiter des NTGent, Johan Simons, inszeniert zum zweiten Mal nach DIE ZEHN GEBOTE (2005) einen Stoff des polnischen Filmemachers Krzysztof Kieslowski und seines Drehbuchautors Krzysztof Piesiewicz. Außerdem inszenierte er an den Münchner Kammerspielen u.a. ANATOMIE TITUS FALL OF ROME, PRINZ FRIEDRICH VON HOMBURG und zuletzt HIOB.

 

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Schauspielhaus

Das Käthchen von Heilbronn

von: Heinrich von Kleist

Regie: Luk Perceval

 

April 2009 Premiere im Schauspielhaus

 

Regie: Luk Perceval. Dramaturgie: Matthias Günther.

 

Liebe kann grausam sein und furchterregend. Jedenfalls entzieht sich ein gewisser Liebeswahn der objektiven Urteilskraft. Oder was soll man dazu sagen, wenn ein 15-jähriges Mädchen vor einem adeligen Herrn niedersinkt und behauptet, dessen Frau werden zu müssen, weil ihr ein Engel im Traum das verkündet hat. Einen klaren Fall von Groupietum meint man zu erkennen, der allerdings eine unangenehme Steigerung erfährt, weil das Käthchen von Heilbronn, sich aus einem Fenster stürzt, als der Graf weiterziehen will und einige Wochen später, gerade von ihren Verletzungen genesen, zur Stalkerin wird und den Grafen beharrlich wie ein Hund seinem Herrn auf Schritt und Tritt verfolgt. Käthchens Vater ist entsetzt und verklagt den Grafen vor Gericht wegen Verführung seiner minderjährigen Tochter. Allerdings möchte er vor Scham erröten, als sein liebes, niedliches Käthchen vor Gericht aussagt, denn sie will von ihrer Wahrheit der Liebe nicht lassen, obwohl vernünftige Gründe dagegen spreche n und se lbst der Graf ihr die He imkehr befiehlt. Nun ist Vernunft nicht die Stärke von Figuren, die Heinrich von Kleist die Bühne stürmen lässt. Kleist ist ein Extremist der Gefühle. Und so wird die praktische Vernunft von einem starken, überwältigenden Gefühl überzeichnet und führt zu überraschenden Wendungen in einer märchenhaft überhöhten Welt. Es stellt sich nämlich heraus, dass dem Grafen im Fiebertraum ein Engel prophezeit, er werde eine Kaisertochter heiraten. Diese meint er zunächst in Kunigunde von Thurneck, einem hochgeschminkten, adeligen Vamp, gefunden zu haben. Es beginnt eine beunruhigende erotische Beziehung in kriegerischen Zeiten, die ihr Ende findet, als sich herausstellt, dass in Wahrheit das Käthchen von Heilbronn die leibliche Tochter des Kaisers ist, der sich einst unerkannt zum Vergnügen unters Volk begeben hatte. Kleist plündert und montiert Alltagsmythen, Aufklärungsskepsis, Zeitmoden und Märchenmotive zu einem wüsten Textwerk aus Kitsch, Affekt und intensivem Sprachfieber. Und gege n alle V ernunft führen Träume zu einer Realität der Liebe. Ist das gerecht?

 

Nach SCHLACHTEN, TRAUM IM HERBST (eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2001), OTHELLO, LULU LIVE und TROILUS UND CRESSIDA setzt der flämische Regisseur Luk Perceval mit das KÄTHCHEN VON HEILBRONN seine Arbeit an den Münchner Kammerspielen fort. Das Käthchen ist Kleists "Kehrseite der Penthesilea, ihr anderer Pol". Kleists PENTHESILEA inszenierte Luk Perceval 2008 an der Berliner Schaubühne, wo er als fester Regisseur seit 2005 arbeitet. Ab 2009 wechselt er als Oberspielleiter an das Hamburger Thalia Theater.

 

 

PREMIEREN UND PROJEKTE IM WERKRAUM

 

Der Werkraum ist roh, unbehauen und schlicht. Mit einer konzentrierten Tribünensituation hat er sich in den vergangenen Spielzeiten als idealer Raum für neue Dramatik erwiesen. Es gab z.B. das Format der Autorenwerkstatt, in dem Stücke von jungen Dramatikern innerhalb von drei Wochen inszeniert wurden. Nicht selten waren diese Werkstattinszenierungen wie MEIN JUNGES IDIOTISCHES HERZ von Anja Hilling, PAS DE DEUX von John Birke, oder STADT LAND FISCH von Paul Brodowsky Folgeprojekte, die sich aus den Wochenenden der jungen Dramatiker ergeben haben. Insgesamt fanden fünf dieser Wochenenden mit deutschsprachigen und internationalen Theaterautoren statt. Zunächst verteilt auf diverse Räumlichkeiten des Hauses, in den letzten beiden Spielzeiten als LANGE NACHT DER DRAMATIKER auf der großen Bühne im Schauspielhaus.

 

In dieser Spielzeit wollen wir aus dieser kontinuierlichen Förderung und Auseinandersetzung mit junger Dramatik heraus einen Schritt weiter gehen und eine einmalige Reihe begründen: Der Werkraum wird in dieser Spielzeit zur Plattform für fünf Theaterstücke junger Autoren, die bereits in den genannten Formaten an den Kammerspielen vorgestellt wurden: Gianina Cãrbunariu, John Birke, Anja Hilling, Jörg Albrecht. Wir haben mit den einzelnen Autoren unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit gefunden:

 

John Birke und Jörg Albrecht schreiben jeweils ein Auftragsstück und werden auch den Probenprozess begleiten. Von Anja Hilling wird die deutsche Erstaufführung von BULBUS zu sehen sein. Die rumänische Autorin Gianina Cãrbunariu schreibt und inszeniert ihr neues Stück in Rumänien, das hier seine deutschsprachige Erstaufführung hat. Zum Abschluss der Reihe wird es ein kleines Festival geben, in dem noch einmal alle fünf Arbeiten zu sehen sein werden, begleitet von Autorengesprächen, Begegnungen und gemeinsamen Feiern.

 

Wir danken dem Verein zur Förderung der Münchner Kammerspiele für die Unterstützung bei den Auftragswerken an die Autorinnen und Autoren der neuen Stücke im Werkraum in der Spielzeit 2008/09.

 

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Werkraum

Some news from the future

von: Gianina Cãrbunariu

Regie: Lars-Ole Walburg

 

Deutschsprachige Erstaufführung September 2008 im Werkraum

 

Bühne und Kostüme: Kathrin Krumbein. Dramaturgie: Malte Jelden.

 

"Das Schicksal der kommenden Generation hängt davon ab, ob wir wieder den Mut aufbringen, glaubhafte Zukunftsbilder zu entwerfen und mit den besten Kräften für ihre Verwirklichung zu kämpfen." Diesen Satz von Gottlieb Duttweiler, dem Gründer der Schweizer "Migros", hat sich die junge rumänische Autorin und Regisseurin Gianina Cãrbunariu scheinbar zu Herzen genommen. Mit jungen Ensembles in Bukarest und New York hat sie Zukunftsszenarien entwickelt, in denen sie die verschiedensten gesellschaftlichen Fragen etwa fünfzig Jahre nach vorne denkt. Glaubhaft sind diese Visionen, erstrebenswert nicht. Der letzte Raucher der Welt wird von seiner Tochter interviewt: "Du warst nur ein mittelmäßiger Raucher. Mutter sagte, dass du in allem ziemlich mittelmäßig warst." "Da hat sie recht. Aber bin ich heute nicht der älteste Mensch auf Erden?" "Wen schert das? Ich bin alt, du bist steinalt. Madonna wird Morgen ihr viertes Kind zur Welt bringen und sie ist nur fünfzehn Jahre jünger als du. Macht al l das noch irgendeinen S inn?" Oder hoffnungsvoll?

In fünf Bildern denkt Gianina Cãrbunariu heutige Problemfelder in eine mehr oder weniger entfernte Zukunft weiter. Sarkastisch und böse beschreibt sie die immer fantastischeren Möglichkeiten einer alternden Gesellschaft und ist in ihrer Analyse völlig uneins mit einer Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages von 2002: "Der demographische Wandel und die enorme Verlängerung der durchschnittlichen Lebenszeiten dürfen nicht primär als Problem, sondern müssen als Gewinn gesehen werden. Der Wunschtraum der Menschheit, möglichst alt zu werden, scheint zunehmend erfüllbar. Die gestiegene Lebenserwartung ist eine positive Auswirkung der Fortschritte in Medizin, Medizintechnik und Pharmakologie. Der demographische Wandel ist auch ein Ergebnis verbesserter Lebensbedingungen und einer gesundheitsbewussteren Lebensführung." Wer am Ende recht behält, können wir nur abwarten.

 

Die Autorin und Regisseurin Gianina Cãrbunariu,1977 in Piatra Neamt geboren, studierte von 1996 bis 2000 Rumänische und Französische Literatur an der Universität Bukarest und anschließend (bis 2004) Schauspielregie an der Nationalen Theater- und Filmakademie in Bukarest. Im Jahr 2000 legte sie ihr Debut-Stück UNWIRKLICHKEITEN AUS DEM NAHEN WILDEN OSTEN vor, das den Ersten Preis beim Nationalen Drama-Wettbewerb gewann. Mit STOP THE TEMPO gelang ihr der internationale Durchbruch als Autorin. 2007 inszenierte Barbara Weber Cãrbunarius KEBAB im Werkraum der Münchner Kammerspiele. Die Uraufführung von SOME NEWS FROM THE FUTURE inszenierte Gianina Cãrbunariu selbst im Mai 2008 in Bukarest.

 

Lars-Ole Walburg hat an den Münchner Kammerspielen u.a. DANTONS TOD, HAMLET, DIE PROBE und zuletzt seine eigene Dramatisierung von Orhan Pamuks Roman SCHNEE inszeniert. Ab der Spielzeit 2009/10 wird er Intendant am schauspielhannover.

 

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Werkraum

Armes Ding

von: John Birke

Regie: Felicitas Brucker

 

Uraufführung November 2008 im Werkraum

 

Kostüme: Sara Schwarz. Dramaturgie: Ruth Feindel.

 

Was haben Lots Töchter aus dem Alten Testament, Judith, die in diversen Überlieferungen den feindlichen Feldherrn Holofernes zur Strecke bringt und Tracey Emin, international gefeierte Künstlerin türkisch-britischer Abstammung, gemeinsam? Tits'n'terror, wie es über Tracey Emin bissig wie bewundernd bemerkt wird. Diese Frauen führen quer durch alle Zeiten und Gesellschaften ihre Sexualität offensiv ins Feld, um für und gegen die Welt anzutreten. Lots Töchter verführen ihren alten Vater, um den Fortbestand des eigenen Volkes zu gewährleisten - obwohl der Vater sie gerade noch den fremden Eindringlingen zur Vergewaltigung angeboten hat. Judith verführt und tötet Holofernes im Moment der Intimität, um ihre Stadt vor der feindlichen Übernahme zu bewahren - und stellt hinterher fest, dass sie sich verliebt und dafür selbst bestraft hat. Die Künstlerin Tracey Emin stellt ihr zerlebtes, von Intimität gezeichnetes Bett aus, das vielleicht gar nicht ihr wirkliches Bett ist. Oder eben d och. Sie erzählt und verarbeitet in ihren Installationen, Bildern und Texten ihre eigene intime Geschichte von Missbrauch, Exstase, Abtreibung, Selbstzerstörung und Wiederauferstehung. Sie übergibt sich selbst dem Markt der Kunst. All diese Frauen sind getrieben von einer klaren Vision, Gott, das Vaterland oder die eigene Identität zu retten, zu suchen, zu begreifen. Und benutzen ihre Sexualität als Instrument im Spiel um Macht und Ohnmacht.

Kann nur wer leidet heroische Taten oder große Kunst hervorbringen? Braucht es die Energie des Unbedingten, um in dieser Welt Spuren zu hinterlassen? Angeregt von der Unbedingtheit der Selbstaufgabe bzw. -hingabe, die in den Geschichten dieser Protagonistinnen zu finden ist, sucht John Birke nach Szenarien der Selbstverwirklichung im heutigen Gesellschaftsgetriebe, in denen Menschen sich selbst kalkulieren, aufs Spiel setzen, eskalieren, um für sich und ihr Anliegen eine Öffentlichkeit oder Kundschaft zu finden.

 

John Birke heißt John Birke, weil er 1981 in Toronto zur Welt kam. Er ist in Stuttgart aufgewachsen und lebt in Hildesheim, wo er seinem Studium (Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus) längst über den Kopf gewachsen ist: Er übersetzt Mark Ravenhill und andere Kollegen aus dem Englischen, seit 2006 arbeitet er regelmäßig mit dem Performerkollektiv Electronic Music Theater zusammen und Stücke schreibt er auch. Zuletzt entstanden MADONNA SINGT NICHT MEHR im Rahmen des Autorenlabors am Düsseldorfer Schauspielhaus und KILL WILLY für die Reihe Deutschlandsaga an der Berliner Schaubühne. An den Münchner Kammerspielen wurde PAS DE DEUX beim 2. WOCHENENDE DER JUNGEN DRAMATIKER vorgestellt und anschließend in einer Werkstattaufführung gezeigt, inszeniert von Felicitas Brucker.

 

Felicitas Brucker hat in England Regie studiert und an den Münchner Kammerspielen DRAUSSEN TOBT DIE DUNKELZIFFER von Kathrin Röggla und ENGEL von Anja Hilling im Werkraum inszeniert, das 2007 zum Festival RADIKAL JUNG des Münchner Volkstheaters eingeladen wurde. Felicitas Brucker arbeitet in Berlin, Freiburg, Hamburg, Hannover und Wien. Ihre Inszenierung von Ewald Palmetshofer HAMLET IST TOT. KEINE SCHWERKRAFT wurde zu den Mülheimer Theatertagen 2008 eingeladen.

 

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Werkraum

Bulbus

von: Anja Hilling

Regie: Christiane Pohle

 

Deutsche Erstaufführung Januar 2009 im Werkraum

 

Bühne: Annette Kurz.

 

Bulbus ist in der Anatomie ein zwiebelförmiges Organ wie z.B. der Augapfel. Bei Anja Hilling ist Bulbus zunächst ein Dorf am Fuß eines Berges, am Rande der Welt, seltsam aus der Zeit gefallen. Die vier alternden Bewohner scheinen mit ihrem Dorf verwachsen, Bulbuser Urgestein:

Die Dorfpolizistin Rosa züchtet Himbeeren und wartet auf ausbleibende Ereignisse. Albert Ross hat eine unbewohnte Pension, Hühner und einen kurzen Atem. Jutta Schratz steht in ihrem Gemischtwarenladen, der alte Markidis geht ihr zur Hand. Des Abends trifft man sich auf der Eisstockbahn und erzählt sich Geschichten. Und: "Die Geschichten sind gut. Alles drin. Vertrauen Idealismus Verrat Mut. Angst und Schuld. Die ganz großen Themen. Was brauchst du noch. Die Willkür der Handlung. Die Verkettung der Umstände. Blitz und Donner. Die Gemeinsamkeit der Hauptfiguren. Also auch Liebe. Später. Viel später."

Und da sind sie auch schon, die Hauptfiguren: Was wie eine Schreibanleitung klingt, flüstert Manuel der jungen Amalthea ins Ohr, die nach einer Eisdusche in der schönen Pension plötzlich wie gefroren in seinen Armen liegt. Seine Worte werden zum Handlungsmotor, angeworfen vom alten Markidis. Er hat Bulbus bei dem Wettbewerb Stile Dörfer sind tief angemeldet und so kam Manuel, ein junger Reporter nach Bulbus. Amalthea ist zeitgleich einem Traum gefolgt und landet im Dorfbus des alten Markidis, der diesen für eine einzige Fahrt reanimiert. Manuel und Amalthea bringen die Vergangenheit der Bewohner zum Vorschein und reißen Bulbus aus seinem Dornröschenschlaf. Außer der Dorfpolizistin sind alle in Bulbus gestrandet: Eine Frau, die ihre kleine Tochter verlassen hat, ein Mann, der einen Richter erschossen hat um einen Griechen zu rächen, ein Kronzeugenpaar das Doppelselbstmord begeht und einen Sohn zurücklässt.

Bei den Zusammenkünften an der Eisstockbahn werden die einstigen Begebenheiten rekonstruiert: Die Figuren schlüpfen in ihre Vorgeschichten und früheren Beziehungen wie in Wintermäntel, die man überziehen und wieder abstreifen kann. Anja Hilling hat mit Bulbus

einen poetischen Dorfkrimi geschrieben, in dem alles mit allem schicksalhaft zusammenhängt und nichts definitiv bewiesen werden kann. Denn die Hälfte unseres Sehorgans blickt nach innen.

 

Anja Hilling, Jahrgang 1975, lebt in Berlin und hat dort Szenisches Schreiben studiert. Seit 2003 ist sie mit ihren Stücken in der deutschen Theaterlandschaft unterwegs und mehrfach für ihr Schreiben ausgezeichnet worden. Ihr zweites Stück MEIN JUNGES IDIOTISCHES HERZ wurde 2004 beim Wochenende der jungen Dramatiker an den Münchner Kammerspielen vorgestellt und daraufhin in einer Werkstattinszenierung gezeigt. Mit MONSUN (2005 in der Regie von Roger Vontobel) und ENGEL (2006 in der Regie von Felicitas Brucker) hat sie ihre Arbeit an den Münchner Kammerspielen kontinuierlich fortgesetzt. Zuletzt wurde ihr Science-Fiction-Stück NOSTALGIE 2175 am Thalia Theater Hamburg uraufgeführt. BULBUS ist im Rahmen der Werkstatttage 2005 am Wiener Burgtheater fertiggestellt und uraufgeführt worden.

 

Christiane Pohle inszeniert regelmäßig an den Münchner Kammerspielen, wo zuletzt das Projekt PARZIVAL und die Inszenierung von Horváths ZUR SCHÖNEN AUSSICHT entstanden sind. Außerdem arbeitet Christiane Pohle u.a. am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Wiener Burgtheater.

 

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Werkraum

lass mich dein leben leben! dirty control 2

von: Jörg Albrecht

Regie: Roger Vontobel

 

Uraufführung März 2009 im Werkraum

 

Bühne: Natascha von Steiger. Kostüme: Eva Martin. Dramaturgie: Ruth Feindel.

 

"You are on a video camera an average of ten times a day - are you dressed for it?"

Die Überwachung in den Städten ist längst keine Science Fiction mehr, der Stadt sind Augen gewachsen, aus ungezählten Kameras blickt sie uns an und dokumentiert unser Leben: Am Bankschalter, im Bahnhof, beim Einkaufen, bei der Arbeit, auf dem Schulhof. Karlsruhe dämmt die Vorratsdatenspeicherung ein, während die Stadt ihre Drehorte ausweitet. Die Stadt, die mal öffentlicher Raum war und uns allen gehörte, und die sich mittlerweile offensiv an private Verwalter verkauft. Planlos herumlaufende Passanten werden zu zufälligen Protagonisten, deren Gesichter im Kontrollzentrum der Stadt in vierhundertfacher Vergrößerung zum starverdächtigen Close Up gezoomt werden können. Was, wenn beispielsweise die Münchner sich inmitten ihrer repräsentativen Architektur dank Videoüberwachung auf einmal vorkommen wie im B-Movie der frühen 1970er oder im Videospiel der späten 1990er Jahre?

Jörg Albrecht thematisiert in LASS MICH DEIN LEBEN LEBEN! das unkontrollierbare Eigenleben der Überwachungstechnologien. Die Struktur seines Textes bezieht sich dabei auf ein Film-Double-Feature von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez, die unter dem Titel GRINDHOUSE (wörtlich: Schund- und Schmuddelkino) 2007 aus zwei voneinander unabhängigen Horror-B-Movies einen Filmabend gemacht haben: Zwei Überwachungs-Stücke, die sich gegenseitig beäugen und misstrauen zum Preis von einem. Und dazwischen? Trailer für die B-Movies von morgen oder Werbung für die "schmutzigen Technologien" (object tracking, face recognition), die unseren Körper in Infoströme verwandeln, um ihn als Bildfläche für die youtube-Dateien verfügbar zu machen. Arbeiten die schmutzigen Technologien mit den Schmuddelkinos zusammen oder gegen sie? Und wo ist eigentlich Platz für den organischen Horror, der auch mal raus will aus unseren Körpern? Kann das zentristische GRINDTOWN durch nichtzentrale Taktiken unterlau fen werd en, um das eigene Leben frei von Fernsteuerung doch noch hinzubekommen? Oder schlägt man GRINDTOWN mit seinen eigenen Mitteln, indem alle sich permanent öffentlich selbst überwachen, bis die Kontrollsysteme im Infomüll ersticken? Denn wenn alles zu sehen ist, werden wir endlich unsichtbar.

 

Jörg Albrecht ist 1981 in Bonn zur Welt gekommen, zwanzig Tage nach MTV. Er hat in Bochum und Wien studiert und promoviert derzeit in Berlin. Jörg Albrecht bewegt sich quer durch alle Disziplinen, er schreibt Theatertexte, Hörspiele, Essays und Romane. Sein zweiter, der Weltraumpoproman STERNSTAUB, GOLDFUNK, SILBERSTREIF erscheint 2008. Als phonofix macht er mit MatthiasGrübel Konzertlesungen und Hörspiele. Sein Stück WORIN NOCH NIEMAND WAR (EIN HEIMATFILM) wurde 2006 am 4. Wochenende der jungen Dramatiker gezeigt und 2007 in einer Werkstattaufführung im Rahmen der Nachtlinie . Mit dem Auftragsstück LASS MICH DEIN LEBEN LEBEN setzt Jörg Albrecht seine Reihe DIRTY CONTROL fort. Teil 1 STELL DIR DEINEN KÖRPER vor beschäftigt sich mit der Eroberung des öffentlichen Raums durch Werbung und wird im Juni 2008 am Maxim Gorki Theater in einer Werkstattaufführung gezeigt.

 

Roger Vontobel arbeitet u.a. an Theatern in Berlin, Essen, Graz und Hamburg. 2006 wurde er von Theater heute zum Nachwuchsregisseur des Jahres gewählt. An den Kammerspielen hat er zuletzt Heinrich von Kleists DIE FAMILIE SCHROFFENSTEIN im Schauspielhaus und LILJA 4-EVER nach der Filmvorlage von Lukas Moodysson im Werkraum inszeniert.

 

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Werkraum

Ein neues Stück

Regie: Thomas Ostermeier

 

Uraufführung April 2009 im Werkraum

 

Thomas Ostermeier ist Künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne und inszenierte an den Münchner Kammerspielen DER STARKE STAMM, VOR SONNENAUFGANG und zuletzt DIE EHE DER MARIA BRAUN (eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2008). Als Gastspiele waren seine Ibsen-Inszenierungen NORA und HEDDA GABLER zu sehen, JOHN GABRIEL BORKMANN folgt im Mai 2009. Seine Inszenierung von Shakespeares HAMLET hat im Sommer 2008 in Athen und Avignon Premiere.

 

 

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PREMIEREN UND PROJEKTE IM NEUEN HAUS

 

Das Neue Haus der Münchner Kammerspiele ist in den letzten Jahren zum Ort des lustvollen Experiments geworden. Als Heimat der Nachtlinie, als Spielort für Projekte von Schorsch Kamerun, René Pollesch und anderen, als Homebase unserer Stadtprojekte von BUNNYHILL bis DOING IDENTITY-BASTARD MÜNCHEN, immer wieder wurde das Neue Haus zum Ausgangspunkt radikaler Befragungen unserer Zeit, unserer künstlerischen Praxis, unserer Stadt.

 

Für eine Spielzeit übergeben wir den Raum an zwei Künstler, die zunächst eher in der Musik beheimatet waren und erst später zum Theater gefunden haben. Beide befragen sich, den Ort, an dem sie arbeiten, und die Gesellschaft, in der sie leben, auf sehr eigene und äußerst produktive Weise. Beide spazieren zwischen den Genres hin und her und schätzen die Wirklichkeit: Als Angriffsfläche, als Gegenspieler, als besten Freund und ärgsten Feind. Wir haben Schorsch Kamerun und PeterLicht gebeten, das Neue Haus jeweils für einen Zeitraum von zwei bis drei Monaten mit ihren Ideen zu beleben. Außerdem starten wir im Herbst 2008 eine ganz spezielle Gesprächsreihe zu dem großen Thema Freiheit.

 

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Neues Haus

Schorsch Kamerun: Ninfo / No Info! | Peter Pan

Ein mehrmonatiges Suchprogramm nach Rest- und Neualternativen. Leitung Schorsch Kamerun

 

Oktober/November/Dezember 2008 im Neuen Haus

 

Raum: Constanze Kümmel. Kostüme: Maren Geers. Dramaturgie: Malte Jelden.

 

Sind wir nur mehr Flachbildschirme mit bestenfalls sozialem Haltegriff? Sind wir Teilnehmer oder Nachläufer? Können wir uns als privates Subjekt noch frei bewegen, wo bereits jede Ware unendliche Freiheit verspricht? Nehmen wir "Mach dein Ding!", den eigentlichen Individualitätsaufruf und gleichzeitigen Werbeslogan eines Baumarktes einmal ernst und fragen uns, ob das zu realisieren ist im Wust des Möglichkeiten-Dschungels. Üben wir uns für eine gewisse Zeit in weitestgehender Nichtbeeinflussung. No Info! Keine Informationen bitte! Probieren wir uns als "Ninfos" und steigen einmal aus, ohne dabei gleich in den Wald abzuhauen. Lassen sich die vergangenen Strategien der Situationisten, Dadaisten, Alternativ-Aktivisten oder Punks ins heute übertragen? Schorsch Kamerun wird in seiner Funktion als ständiger Regent und Kurator gemeinsam mit einem wagemutigen Expertenteam, sowie echten Ninfo-Probanden herausfinden, ob es noch Zwischenräume gibt außerhalb der ständigen Ausleuchtung. E in Theme nabend über den französi schen Revolutionär Jules Vallés mit Bestsellerautor Rocko Schamoni, DIE STERNE- Sänger Frank Spilker und dem DIE GRÜNEN-Mitbegründer Thomas Ebermann kann da genauso passen, wie ein flexibler Konzertabend mit dem "Feinsammler" Jacques Palminger oder eine Zusammenarbeit mit der schwedischen Künstlerin Johanna Billing, die ein Münchner Monumental-Konzert mit nur einem einzigen Song plant. Speziell für Kinder widmet sich Schorsch Kamerun außerdem einer literarischen Figur, die das Experiment der bewussten Realitätsverweigerung schon seit über hundert Jahren vorlebt:

 

PETER PAN. Ein Musical mit Recht auf private Zeit. Für die ganze Familie.

Peter Pan lebt im Nimmerland. Hier wohnen Elfen, Piraten, Indianer und Meerjungfrauen. Eines Nachts entführt Peter das Mädchen Wendy Darling und ihre Brüder aus London ins Nimmerland. Sie erleben eine Vielzahl von Abenteuern, doch das Heimweh der Darling-Kinder wird so groß, dass Peter sie zurückbringt. Er selbst bleibt im Nimmerland. Peter Pan ist ein wahrhaft Radikaler, der partout nicht erwachsen werden will. In diesem Verweigerungszustand, den Geschichten von Peter, Wendy, Kling Klang und Kapitän Haken, entdeckt Schorsch Kamerun eine Parallele zur aktuellen Sehnsucht nach befreienden Haltungsmodellen.

 

Schorsch Kamerun, Sänger der legendären Punkband DIE GOLDENEN ZITRONEN, ist Musiker, Autor und Regisseur. In der Spielzeit 2006/07 inszenierte er mit MACHT UND REBEL von Matias Faldbakken erstmals an den Münchner Kammerspielen. 2008 folgte DOWN UNDERSTANDING. Außerdem aktuelle Inszenierungen für die RuhrTriennale, das Schauspiel Köln und die Wiener Festwochen. Schorsch Kamerun ist Mitbetreiber des Hamburger GOLDEN PUDEL KLUB. Mit PETER PAN realisiert Schorsch Kamerun seine zweite echte Kindermärchenadaption. Am Schauspielhaus Zürich inszenierte er bereits DIE SCHNEEKÖNIGIN von Hans Christian Andersen.

 

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Neues Haus

PeterLicht: Der Mensch ist unsichtbar | Räume räumen. Sie werden singen. Sie werden sprechen.

von: PeterLicht

 

Januar/Februar/März 2009 im Neuen Haus

 

Gemeinsam sind wir, ja was eigentlich? Ein Ameisenhaufen? Ein Gedankenexperiment? Keine Meise ist Einzelwesen, sondern freilaufende Faser des Ganzen.

Worum es geht: Meine Träume, meine Meinungen checken. Sind das meine? Oder ist es ein allgemeiner Traum, der sich in mir träumt? Der große Schlaf. Das Lied, das sich singt. Der Mensch ist unsichtbar. Das System mit seinen eigenen Gesetzen. Und das, was ist, passt immer ins System. Gibt es einen individuellen Menschen? Oder ist Individualität ein Marketingtool? Der ideale Teilnehmer am Warenkreislauf: Der Einzigartige. Der individuelle Depp, der sich auskleidet mit dem Laminat vom Tage (Laminat du Jour). Auskacheln. ("Das möchte ich jetzt auch noch haben") Aber, was sonst. Schlafen? Unsichtbar sein? Nöööh. Meine Träume sind deine. Der gemeinsame Schlaf. Der Traum. Berufe tauschen, Identitäten tauschen. Der Mensch ist unsichtbar. Wir geistern durch unsere Träume. Wir tauchen dann und wann auf. Wir sagen etwas daher. Jemand sagt unsere Gedanken auf. Einzigartiges Ich.

Kulturleistung: Wegnicken. Wegsehen. Einnicken. Die Frage: Was kommt nach der Selbstverwirklichung? Der manchmal aufkeimende Verdacht, dass "Selbstverwirklichung" ein anderes Wort ist für Depression.

Personengruppen beschlafen das Theater, schweben, machen Musik und treffen sich in der Umgebung auf den Dächern der Parkhäuser. Für immer, nur für kurze Zeit. Gemeinsam mit befreundeten Künstlern, Musikern und anderen Menschen wird gesungen, getanzt, Theater gemacht. Vielleicht eine Vision. Vielleicht ein schwebendes Haus. Vielleicht der Anfang eines neuen Endes. "Frei sollten wir sein - sonst könnten wir uns nicht davon befreien frei zu sein."

 

Räume räumen. Sie werden singen. Sie werden sprechen.

Unter diesem Arbeitstitel wird es einen musikalisch-theatralen Abend geben, den PeterLicht mit Schauspielern der Münchner Kammerspiele produziert. Sie werden singen. Sie werden sprechen. Sie werden weitermachen. Der Musiker PeterLicht verweigert den Kameras dieser Welt den Zugriff auf sein Bild, über seine Biographie ist wenig bekannt. Er gilt als höflich und talentiert. An den Münchner Kammerspielen hat Christiane Pohle im Jahr 2006 aus seiner Vorlage WIR WERDEN SIEGEN! einen vergnüglichen Theaterabend mit viel Musik gemacht. Das gleichnamige BUCH VOM ENDES DES KAPITALISMUS ist im Münchner Blumenbar Verlag erschienen, ebenso wie sein Text Die GESCHICHTE MEINER EINSCHÄTZUNG AM ANFANG DES DRITTEN JAHRTAUSENDS, mit dem er beim Ingeborg-Bachmann -Wettbewerb den 3sat- und den Publikumspreis gewonnen hat. Im Herbst 2008 erscheint sein neues Album.

 

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Neues Haus

Hilfe, Freiheit!

Diskurs, Film, Labor. Konzept: Florian Thalhofer, Tobias Hülswitt

 

Diskurs ab Herbst 2008 im Neuen Haus

 

Gemeinsam mit dem Filmemacher Florian Thalhofer und dem Autor Tobias Hülswitt entwickeln wir ein Format, politischen Diskurs zum Thema Freiheit auf anschauliche Weise zu vermitteln. Die Fragen sind klar: Wie gehen wir heute mit der Freiheit um, die frühere Generationen für uns erstritten haben? Wie muss sich unser Begriff von Freiheit verändern, wenn wir die neuen Lebenszusammenhänge, die durch Globalisierung und Migration entstanden sind, ernst nehmen? Was sind die Werkzeuge, Mittel und Fähigkeiten, die benötigt werden, um Freiheit anzunehmen und als Gewinn zu leben? Wie installieren sich in einer post-religiösen Welt Solidarität und Mitgefühl? Installieren sie sich überhaupt? Ist Freiheit gut? Gibt es einen Impuls, die relative Freiheit, in die man als Angehöriger eines "demokratischen" Systems hineingeboren ist, schnellstmöglichst wieder loszuwerden? Wer schützt unsere Freiheit und wo?

Solche und ähnliche Fragen sollen in dem Laboratorium HILFE, FREIHEIT! behandelt werden. Dabei geht es vor allem darum, eine neue Form des öffentlichen Diskurses zu erproben.

An den verschiedenen Abenden werden je zwei prominente Fachleute zur Diskussion auf die Bühne geladen. Diese werden gemeinsam mit dem Publikum einzelne Aspekte zum Thema Freiheit besprechen. Mit der Gesprächsreihe entsteht ein mit den Veranstaltungen wachsender Korsakow-Film. Der Korsakow-Film ist als eine Erzählform, die gegenüber den klassischen Medien für ein freiheitlicheres, demokratischeres Erzählen steht, das ideale Medium für ein Laboratorium zum Thema Freiheit. Anschaulicher als im Buch und ausführlicher als im klassischen Dokumentarfilm kann darin eine große Anzahl von Interviewpartnern zu Wort kommen. Durch seine dialogische Struktur bietet der Korsakow-Film darüber hinaus vielfältige Anknüpfungspunkte für begleitende Veranstaltungen und ein Weiterwachsen über die Dauer des Projektes hinaus. Ebenso wie das von Florian Thalhofer entwickelte Film-Verfahren sollen auch die Abendverstanstaltungen einem streng non-linearen und demokratischen Prinzip folgen. Das Publikum selbst entscheidet über den For tgang der Erzählung.

(Mehr zu Film und Verfahren unter www.korsakow.com)

 

In Zusammenarbeit mit Goethe-Institut, Bundeszentrale für politische Bildung, Kulturreferat der Landeshauptstadt München

 

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STADTPROJEKT

 

Schauspielhaus

Haus der Freiheit

Von Peter Kastenmüller, Björn Bicker und Michael Graessner

 

Stadtprojekt Mai/Juni 2009

 

Die Stadt wird von den Menschen geprägt, die in ihr leben. Sie bevölkern Straßen und Häuser, sie kaufen, sie arbeiten, sie gestalten ihre freie Zeit. Sie bilden Staus, sie füllen Stadien, sie arbeiten, sie kriegen Kinder, sie streiten, sie sprechen verschiedene Sprachen. Sie richten Gebetshäuser ein, sie gründen Parteien, sie eröffnen Geschäfte. Sie kommen aus aller Herren Länder, mit jedem Menschen, der neu ankommt, stirbt das Gewohnte und entsteht das Neue. Wäre man dagegen, dann wäre das so, als wolle man den Wolken das Ziehen verbieten. Die Autonomie der Migration hat aus der bayerischen Landeshauptstadt eine transnationale Metropole gemacht. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung stammt aus Einwandererfamilien, Tendenz steigend. Und plötzlich verlieren die Begriffe ihre gewohnte Bedeutung, werden neu verwendet, verändern sich im täglichen Gebrauch. So auch die Vorstellung von Freiheit. Die letzten Tage des alten München sind die ersten Tage des neuen München. Was meinen di e Bewohn er dieser Stadt, wenn si e Freiheit sagen? Wessen Freiheit meinen sie? Wie leben sie ihre Freiheit? Wer befreit sie von der Freiheit? Wer wird seiner Freiheit beraubt, wem wird sie geschenkt? Was könnte das sein, die neue Münchner Freiheit? Wir wollen ein Archiv gründen, ein Archiv der Münchner Freiheiten und ihm die ersten Kapitel schenken. Wir wollen ein Haus der Freiheit eröffnen und ringen jedem der 42 Münchner Stadtbezirke eine eigene Freiheit als Gründungsgeschenk ab. Gemeinsam mit Künstlern, Laien und Aktivisten verlassen wir das Theater und bevölkern ein Haus, einen Garten. Ein ganzes Haus Freiheit: Allacher Freiheit, Altstadtfreiheit, Freiheit Am Hart, Freiheit in der Au, Aubinger Freiheit, Berg am Laimer Freiheit, Bogenhausener Freiheit, Feldmochinger Freiheit, Forstenrieder Freiheit, Freiheit Freimann, Fürstenrieder Freiheit, Haderner Freiheit usw. Das Projekt startet mit einer einfachen Wohnungsanzeige: Theater sucht Haus mit Garten. Für die letzten Tage von München. Für die ersten Tage v on Münch en.

 

Peter Kastenmüller arbeitet als Theaterregisseur an verschiedenen deutschsprachigen Bühnen, u.a. am schauspielfrankfurt und am schauspielhannover. Michael Graessner arbeitet als Bühnen und Kostümbildner ebenfalls an zahlreichen Theatern und Opernhäusern. Björn Bicker ist Dramaturg und Autor, seit 2001 an den Münchner Kammerspielen engagiert. Gemeinsam waren die drei an den Münchner Kammerpielen Erfinder und künstlerische Leiter des Stadtprojekts BUNNYHILL 1+2. In der Spielzeit 2007/08 haben sie im Schauspielhaus gemeinsam das Projekt ILLEGAL realisiert.

 

 

 

 

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