Lessings Situation war verzweifelt. Hoffnungsvoll hatte er seine Arbeit als Dramaturg am neugegründeten Nationaltheater in Hamburg mit einem anspruchsvollen Programm begonnen - aber die Bühne schloss nach einem Jahr wegen Erfolglosigkeit und Zerstrittenheit. Gleichzeitig machte er Konkurs mit einer eigenen Verlagsdruckerei, die für Schriftsteller bessere Bedingungen schaffen wollte. Lessing war über vierzig Jahre alt. Von einer Heirat mit seiner Verlobten, einer kinderreichen Witwe, konnte er vorerst nur träumen, er stand vor den Trümmern seiner Existenz, vor fehlgeschlagenen Experimenten und vor einem riesigen Schuldenberg.
So nahm er zähneknirschend das Angebot des Herzogs von Braunschweig an, sich als Bibliothekar in der berühmten aber sehr abgelegenen Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel zu vergraben. Sechs Jahre musste er dort für mickrigen Lohn einen langweiligen Dienst tun, bis er endlich etwas besser gestellt wurde. In diesen Jahren liess der Landesfürst den kritischen Dichter seine Willkür spüren. Immer wieder versprach er eine Lohnerhöhung, immer wieder wollte er nichts davon gewusst haben. Dafür gab er für seine Vergnügungen Unsummen aus, die nicht zuletzt vom Verkauf junger Burschen als Soldaten in fremde Länder herstammten.
Vor diesem Hintergrund schrieb Lessing die Tragödie "Emilia Galotti", eine geniale, finstere Abrechnung mit der grössenwahnsinnigen Willkürherrschaft der Mächtigen. Als Anregung nahm er ein Vorkommnis aus der Römerzeit, mit dem er wie im Brennspiegel die gewalttätigen Extreme des Machtmissbrauchs vorführen konnte. Er liess die Geschichte in einem zeitgenössischen italienischen Fürstentum spielen, das freilich fatal an einen deutschen Kleinstaat erinnert.
Der Prinz Gonzaga, ein triebgesteuerter Hohlkopf, schmachtet nach dem neusten Objekt seiner Begierde. Emilia Galotti heisst sie, ist eine Bürgertochter, nicht standesgemäss, aber ein Leckerbissen für seinen sexuellen Appetit. Bis jetzt ist er freilich nicht an sie herangekommen. Sie wird von den Eltern gut bewacht und soll ausserdem heute noch den Grafen Appiani heiraten. Da bleibt dem Prinzen nur Gewalt. Sein skrupelloser Kammerherr Marinelli lässt die Hochzeitskutsche überfallen, den Bräutigam ermorden und die verstörte Emilia aufs prinzliche Lustschloss verfrachten. Leider kann der lüsterne Liebhaber nicht sofort zum Vollzug schreiten, weil Emilias Eltern nachgekommen sind und ihm Vorwürfe entgegenschleudern. Seine Beschwichtigungsversuche scheinen schliesslich zu gelingen, er gewährt Emilia ein Zusammentreffen mit ihrem Vater. Es wird zum Todesritual. Halb aus eigenem Antrieb, halb von ihr angestachelt, ersticht der Vater seine eigene Tochter, um sie nicht der Schande preiszugeben.
Lessings schreckliches Fazit: Protest und Gegenwehr des Bürgers gegen die brutale Allmacht der adligen Despotie kann sich nur noch in einem Akt der Selbstzerstörung äussern. Eine schlimmere politische Diagnose gibt es nicht.
Obwohl dieses revolutionäre Werk eine bei uns längst verschwundene Fürstenherrlichkeit beschreibt, ist es in seiner dunklen Schönheit, in seiner Härte und Konsequenz, in seiner intellektuellen Brillanz von zeitloser Gültigkeit und ein Gleichnis für jede angemasste Willkür.
Das Landestheater Neuss zeigt eine Inszenierung von Astrid Jacob. Sie kürzte den Text aufs Wesentliche und inszenierte mit einem sicheren Gespür für wirkungsvolle Auftritte und substantielle Auseinandersetzungen, ganz auf die Personen und ihre schicksalhaften Verstrickungen konzentriert. Das Bühnenbild von Susanne Thaler, drei hohe bemalte Wände um einen leeren Raum, zeigt einen ziemlich gelungenen Abklatsch mediterraner Buntheit.
Die fast überlebensgrossen Rollen mit schauspielerischer Kraft zu füllen, gelang den meisten Spielern, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Steffen Schreier ist der Inbegriff eines charakterlosen prinzlichen Kretins, geil, kalt, gefährlich, und doch schwächlich in den Fängen seines durchtriebenen Kammerherrn Marinelli hängend. Eine explosive Mischung aus niederträchtigen Charakterzügen. Marco Luca Castelli überzeugt als energiegeladener, sich mühsam beherrschender, zynischer, durch und durch verdorbener Höfling. Die Emilia von Sara Ghersi ist ein schönes, sehr junges Mädchen, rührend in ihrer Hoffnungslosigkeit, wenn auch noch etwas unbestimmt im Ausdruck. Nicht voll gelungen scheint mir die Inszenierung im Spiel der Eltern. Die beeindruckende Illi Oehlmann ist als Mutter von einer zu unangreifbaren Robustheit, fast wie eine vorweggenommene Mutter Courage, und Peter Liebaug zeigt sich der heiklen Rolle des liebend-grausamen Vaters nicht wirklich gewachsen. Juschka Spitzer müht sich, dem Paradepart der verlassenen Prinzengeliebten Orsina schauspielerischen Glanz und intellektuellen Biss zu verleihen, was ihr nur zum Teil gelingt.
Aber im Ganzen: ein sehr eindrucksvoller, spannender Abend im Neusser Landestheater, das wie schon oft seine künstlerischen Potentiale klug und wirkungsvoll zur Geltung bringt!
Premiere am 24. Januar 2003 im Schauspielhaus