Ein Tänzer (fulminant dargestellt von David Moore) erscheint als Beobachter und Teilnehmer der Gruppe. Ambivalenz und innere Zerrissenheit treten hervor. Es erscheinen Engel und Teufel zugleich. Dantes Geschichte wird anders ausgelegt - nämlich als Dialog des Geistes. Die drei Phasen der "Göttlichen Komödie" werden in spannungsreicher Weise umgekehrt. Der Protagonist durchläuft zunächst das Paradies, dann das Fegefeuer und kommt schließlich in der Hölle an. Dazu machen die Tänzerinnen und Tänzer großzügige Bewegungen, steile Wände schildern das Inferno, Lichtsäulen scheinen Paradies und Fegefeuer zugleich zu markieren. Dazu kommen blaue und orangene Ringe und Kugeln, die das Geschehen visuell sehr stark beeinflussen.
David Moore hält als ausdrucksstarker Tänzer die gesamte Truppe zusammen, kämpft dagegen an, den Faden zu verlieren. Die harmonisch vielschichtige Musik "Falling Fields & Pixel Paths" von Henry Vega ist eine Auftragskomposition, die Themen aus der klassischen Musik kunstvoll verarbeitet. So erkennt man auch zwischen Ostinato-Passagen Sequenzen aus Franz Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen". Bewegung erscheint dabei als Navigation von Veränderungen, Dynamiken, Zuständen und Optionen. Durch Transformation entsteht dadurch Bewegunssprache. Dieses Ballett ist keine Kopie von Dantes ursprünglicher Renaissance-Erzählung, sondern eine Reaktion auf die Situation der heutigen Welt.
Das Staatsorchester Stuttgart musiziert unter der glutvollen Leitung von Wolfgang Heinz voller Emphase. In der subtilen Choreographie von David Dawson steht die Symphony No. 2 "Under the Trees' Voices" von Ezio Bosso im Mittelpunkt. Sie beeindruckt als ergreifender Motor für die Bewegung auf der Bühne. Die Weite der Natur beschreibt auch die Sehnsucht nach dem Schönen. Präzise geometrische Grenzen werden durch erhöhe Emotionen ausgeleuchtet. Das emotionale Engagement fordert von den Tänzern scheinbar Unmögliches - nämlich das Fliegen durch den Raum. Doch dieser komplizierte Spagat gelingt.
Der Komponist Ezio Bosso lag 2020 im Sterben, als er dieses Werk komponierte. Und das Staatsorchester Stuttgart macht unter der einfühlsamen Leitung von Wolfgang Heinz den sphärenhaften Klangzauber dieser Musik deutlich. Die Symphonie besteht aus fünf Sätzen - und die fünf verschiedenen Welten werden vom Stuttgarter Ballett immer wieder neu und mit starker innerer Bewegung beschrieben. Unterlegt ist diese Arbeit außerdem mit suggestiver Lyrik von Rainer Maria Rilke (aus "Das Stunden-Buch: Vom Mönchischen Leben"). Wegen den gesteigerten Emotionen ist Rilke für David Dawson auch besonders geeignet. Liebe und Schönheit sowie den Raum zwischen den Menschen habe Rilke in einzigartiger Weise erforscht.
Bewegung erscheint hier als Poesie. Dazu passen die einzelnen kontrapunktisch reichen Sätze von Ezio Bossos Symphonie - besonders eindrucksvoll ist dies im vierten Trio-Satz "Tree's Sacrifice, Death of a Tree", im Finale des fünften Satzes "Between Men and Trees" oder gleich im ersten Adagio-Satz "Under the Trees' Voices". Arabeskenhafte Bewegungen zwischen Höhen und Tiefen geben den TänzerInnen die Freiheit, den Worten Atem zu verleihen. So entsteht eine Verbindung zwischen dem Tänzer selbst und der Gruppe drumherum. Die Frage steht im Raum, was jenseits des Himmels existiert. Formationen, Spiralen und Energien lassen Schöpfung entstehen. Liebe und Tod werden ebenso thematisiert wie in Dawsons anderen Arbeiten "Romeo und Julia" sowie "Tristan und Isolde". Entscheidend ist, dass alles sinnvoll miteinander verbunden wird. Dies ist hier geglückt (Bühne: Eno Henze; Kostüme: Yumiko Takeshima).
Jubel, viele "Bravo"-Rufe.