Seine Recherchen in Chur und seine Funde von Brecht-Material in Zürich lassen das Stadttheater Chur und das Theaterexperiment unter dem Direktor Hans Curjel in einem neuen Licht erscheinen. Tonaufnahmen aus der Zeit, historische Fotos und Dokumente sowie Filmporträts von Zeitzeugen, wie dem Theaterfotografen Theo Vonow aus Chur, runden den Vortrag ab.
Jubiläumsmatinee
Sonntag, 17. Februar, 11 Uhr
Dauer: 1 Std 30 Min, CHF 16 / 13 / 8*
Referent: Werner Wüthrich
Eine Veranstaltung von Theaterverein Chur und Theater Chur
Werner Wüthrich:
Wie kam es, dass Bertolt Brecht vor 60 Jahren eigens für das Stadttheater Chur das Stück «Antigone des Sophokles» schrieb und am 15. Februar 1948 zur Uraufführung brachte?
Es ist kaum mehr bekannt, dass nach Ende des Zweiten Weltkrieges das kleine Stadttheater Chur eine der führenden Bühnen der Schweiz, ja ein im ganzen deutschen Sprachraum viel beachtetes Theater war. Ein junges Ensemble, «ein wilder experimentierfreudiger Haufen», unter Leitung des Regisseurs, Schriftstellers, Kunsthistorikers und Musikwissenschaftlers Hans Curjel, sorgte in drei kurzen Spielzeiten von 1946 bis 1948 für das «Theaterwunder von Chur», wie die überregionale Presse es damals nannte. Es herrschte in der Stadt, im Kanton, ja in der ganzen Region eine Stimmung des kulturellen Aufbruchs, der Öffnung und des Neuanfangs.
Hans Curjel, der damals 50-jährige Direktor des Stadttheaters, schrieb schon im ersten Programmheft, auch die Regionen ausserhalb der Grossstädte hätten Anrecht auf Meisterwerke der Theaterliteratur und künstlerisches Theater. Der gemeinsame Nenner von Ensemble, Theaterleitung und Publikum war die Neugier auf junges und zeitgenössisches Theater. Vorbild war eine neue Art von Volkstheater, das experimentelle Théâtre populaire, wie es Theaterbegeisterte im frankophonen Raum auf die Bühne brachten.
Etwas vereinfacht gesagt, hatte das Ensemble des Stadttheaters vor, das Theater für Chur und mit dem Churer Publikum neu zu erfinden. Ein Theater übrigens, das auf den gleichen Kriterien basierte, die Bertolt Brecht in programmatischer Weise, mit seinem neuen Volksstück «Herr Puntila und sein Knecht Matti», erstmals zur Diskussion stellte. Bereits Ende der ersten Spielzeit konnten das neue Ensemble und Direktor Curjel es wagen, in Chur von «experimentellem Theater» zu sprechen:
«Das Theater unserer Tage steht in starkem Mass unter dem Zeichen von einschneidenden Veränderungen. In einer Epoche, in der für die Kunst überhaupt neue Dimensionen und Zusammenhänge entdeckt worden sind – man denke an die Malerei oder an die Architektur –, ist es selbstverständlich, dass auch das Theater, dieses hochempfindliche, barometerhafte Gebilde, von neuen Dingen ergriffen wird, die geeignet sind, sein äusseres Gesicht wesentlich zu verändern.»
Mit ihrer neuen Art Theater, einem kritischen Volkstheater, vermochten Hans Curjel und sein junges Ensemble die Stadt zu verzaubern, ja über den Kanton hinaus in der ganzen Ostschweiz eine noch nie da gewesene Theaterbegeisterung zu entfachen. Schon am Ende der ersten fulminanten Spielzeit wurde dem Stadttheater-Direktor ein eigenes Haus in Aussicht gestellt: ein Neues Theaterzentrum Ostschweiz sollte in Chur gebaut werden. Zukunft und Kontinuität des Stadttheaters waren verknüpft mit der Errichtung eines neuen «Theaters mit Konzert und Kongresssaal nebst grossem Geschäftshaus» auf der Liegenschaft Caflisch sowie einer Neugestaltung des Postplatzes.
International bekannt ist «Churer Experiment » von Hans Curjel vor allem durch die Theaterarbeit von Bertolt Brecht, Helene Weigel und Caspar Neher in der letzten Spielzeit 1947/48. Es war bei der Theaterarbeit mit Charles Laughton in den USA und bei der Arbeit an der «Antigone des Sophokles» in Chur mit Hans Curjel und dessen Theatergenossenschaft in Zürich, dass Bertolt Brecht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder erste Vorstellungen von einem Theaterlabor für Bühnenexperimente entwickelte. Der Auftrag an Bertolt Brecht war für Hans Curjel, der erst seit zwei Spielzeiten Direktor des kleinen Stadttheaters Chur war, ein Wagnis, das er aber einzugehen bereit war. Er äusserte sich vor der Uraufführung in einer Pressemitteilung im «Freien Rätier», er habe «Vertrauen auf das lebendige Interesse des Churer Publikums» und wolle dem Autor der Neufassung, dem Dichter Bert Brecht, gleichzeitig die «seltene Möglichkeit» geben, «seine Vision des Werkes zu verwirklichen». Als Auftraggeber der Neufassung dieser «gewaltigen Tragödie» hoffe er, in ihr werde sich «die Welt der alten Kunst» mit «dem Geist der zeitgenössischen Gestaltung» verbinden.
Der Höhenflug des Churer Experiments und der Gründung eines neuen Volkstheaters in der östlichen Alpenregion – grenzüberschreitend als Städtebundtheater konzipiert – dauerte nur zwei kurze Spielzeiten. Es fehlte der lange Atem, der politische Wille auch, und Chur kehrte 1948 unmittelbar nach Bertolt Brechts wegweisender Theaterarbeit zum Kantonshauptstadt-Alltag zurück. Das Scheitern hatte in keiner Weise mit Brechts Auftritt und seiner Theaterarbeit in Chur zu tun. Das Ende des Churer Theaterwunders und das Aus der Ära Curjel war bereits beschlossene Sache, Monate bevor Hans Curjel, Caspar Neher und Bertolt Brecht sich im November 1947 in Zürich
begegneten und gemeinsam das «Antigone»- Projekt in Angriff nahmen.
Das wilde Ensemble, die Aufführungen und die Bühnenexperimente von damals sind längst vergessen, doch was bis heute an jene paar Monate der Theaterbegeisterung und an das kulturelle Engagement des Publikums in dieser Stadt erinnert, ist der Theaterverein Chur, der in diesen Tagen sein 60-jähriges Bestehen feiern kann.