Was Nussknacker nachts treiben, so dass Maschinen irrtümlich als bezaubernde Mädchen erachtet werden, haben wir bereits in der Tanzgeschichte erfahren. Im 21. Jahrhundert sehen die Wesen, die uns in der Phantasie beschäftigen, aber ganz anders aus. Antoine Jully hat für seine Choreographie "Hidden Features" seinen Computer aufgeschraubt und sich von den Komponenten inspirieren lassen. So verliebt sich eine Grafikkarte in ein Motherboard, ein Cursor lässt sich nicht immer beherrschen und Viren überfallen Dateien. Dazu gibt es Schrittfolgen, die sich stilistisch nicht verorten lassen, aber die Emotionen und die Geschichte widerspiegeln und die schließlich in schnellen Bewegungen münden, die durch Real Time Video Interaction in einer Projektion einen Computerbrand simulieren. Futuristische Kostüme ergänzen das Bild dieser märchenhaften Phantasiewelt des 21. Jahrhunderts. Statt Werken der Minimal Art, die man hier erwarten könnte, verwendet Jully für seine Choreographie Erwin Schulhoffs "Fünf Stücke für Streichquartett" und Henryk Góreckis "Konzert für Cembalo und Streichorchester". Eine gelungen Synthese!
Spektakulär sind die Kostüme, die Rei Kawakubo für Merce Cunninghams "Scenario" entworfen hat. In den ersten Bildern blau-weiß breit gestreift, bzw. grün-weiß kariert, später monochrom schwarz und rot, aber immer mit dicken, unförmig erscheinenden Polsterwülsten, die den Körpern der Balletttänzer eine bizarre Anmutung verleihen und von denen man meint, dass sie die Tänzer in ihren Bewegungen einschränken, behindern würden. Das ist zwar nicht der Fall, denn schließlich haben sie eine Balance gefunden, dennoch erzeugt diese Deformation beim Zuschauer gehörige Irritation. Das ist auch beabsichtigt, gehört zum Konzept Cunninghams, in seinen Choreographien Erwartungshaltungen an natürliche Bewegungsfolgen in Frage zu stellen, hier auch äußerlich sichtbar gemacht. Die experimentelle, meditative Musik von Takehisa Kosugi unterstreicht das Anliegen Cunninghams, keine Narration, sondern flüchtige Momente zu erzeugen.
Ludwig van Beethovens "Grosse Fuge in B-Dur" bildet die musikalische Grundlage in Hans van Manens gleichnamigem Stück, ergänzt durch Beethovens "Cavatina" aus dem "Streichquartett B-Dur. Auch van Manen erzählt keine Geschichte, sondern beschäftigt sich abstrakt mit einem bei ihm immer wiederkehrenden Thema, den Beziehungen der Geschlechter zueinander und den Geschlechterrollen Die hautfarbenen Kostüme der Tänzerinnen lassen sie fast nackt und schutzlos erscheinen, während die Tänzer mit schwarzer, kurzer Hose und nacktem Oberkörper Stärke ausstrahlen. Die unbewegt Verharrenden treffen auf sich kraftvoll Präsentierende. Die Provokation wird aufgenommen, widergespiegelt, die Rollen vertauscht. Das emotionale Spiel der Anziehung und Abstoßung, der Nähe und Ferne, der erotischen Attraktion entfaltet sich, bis schließlich alle Machtkämpfe ausgetragen sind und im Schlussbild alle Individualität in Synchronismus aufgeht.
"B19" ist ein facettenreicher Balletabend, der sehr unterschiedliche Choreographien zusammenfasst und beim Publikum großen Anklang fand.
HIDDEN FEATURES (Uraufführung) von Antoine Jully
MUSIK Fünf Stücke für Streichquartett von Erwin Schulhoff sowie Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 40 von Henryk Miko?aj Górecki
Choreographie und Bühne: Antoine Jully
Kostüme: Kevin Gamez
Interactive Video: Matthias Oostrik
Licht: Volker Weinhart
Tänzerinnen: Sachika Abe, Ann-Kathrin Adam, Marlúcia do Amaral, Camille Andriot, Doris Becker, Wun Sze Chan, Sabrina Delafield, Mariana Dias, Nathalie Guth, Alexandra Inculet, So-Yeon Kim, Anne Marchand, Nicole Morel, Louisa Rachedi, Claudine Schoch, Virginia Segarra Vidal, Elisabeta Stanculescu, Irene Vaqueiro
Tänzer: Rashaen Arts, Christian Bloßfeld, Paul Calderone, Jackson Carroll, Martin Chaix, Michael Foster, Filipe Frederico, Philip Handschin, Richard Jones, Marquet K. Lee, Sonny Locsin, Alexander McKinnon, Marcos Menha, Bruno Narnhammer, Chidozie Nzerem, Alban Pinet, Friedrich Pohl, Boris Randzio, Alexandre Simões
SCENARIO von Merce Cunningham
MUSIK „Wave Code A-Z“ von Takehisa Kosugi
Choreographie:Merce Cunningham
Kostüme, Raum und Licht nach: Rei Kawakubo
Einstudierung: Banu Ogan, Daniel Squire
Production Consultant: David Covey
Rekonstruktion Kostüme: Catherine Voeffray
Tänzerinnen: Ann-Kathrin Adam, Camille Andriot, Wun Sze Chan, Mariana Dias, Alexandra Inculet, Nicole Morel, Louisa Rachedi, Virginia Segarra Vidal
Tänzer: Jackson Carroll, Martin Chaix, Michael Foster, Marquet K. Lee, Sonny Locsin, Bruno Narnhammer, Alban Pinet
GROSSE FUGE von Hans van Manen
MUSIK Große Fuge B-Dur op. 133 und Cavatina aus dem Streichquartett B-Dur op. 130 von Ludwig van Beethoven
Choreographie: Hans van Manen
Bühne: Jean-Paul Vroom
Kostüme: Hans van Manen
Licht: Jan Hofstra
Einstudierung: Mea Venema
Tänzerinnen: Doris Becker, Feline van Dijken, Claudine Schoch, Julie Thirault
Tänzer: Rashaen Arts, Paul Calderone, Bogdan Nicula, Alexandre Simões