Der letzte Film von Pier Paolo Pasolini vor dessen Ermordung beruht auf einem Roman des Marquis de Sade, der die explizite Darstellung sexueller Machtausübung als eine Art Gesellschaftsdiagnose im ausgehenden 18. Jahrhundert präsentierte. Pasolinis Adaption des Stoffes wird oft als Kommentar auf eine Herrschaftsform gelesen, die das faschistische Regime zwar ablöste, aber ähnlich repressive Mechanismen fortführte: die moderne Konsumgesellschaft mit ihrer Normalisierung des Exzesses und der Perfektionierung des Menschen.
Gemeinsam mit dem Theater HORA, das in weltweit gefeierten Inszenierungen die Behinderung seiner Schauspieler zum Thema macht und 2016 mit dem Schweizer Theaterpreis ausgezeichnet wurde, schliessen Milo Rau und das Schauspielhaus Zürich mit „Die 120 Tage von Sodom“ an Raus Produktion „Five Easy Pieces“ an. Das in bisher 10 Ländern aufgeführte und an zahlreichen Spielorten zensierte Stück, in dem Kinder die Verbrechen des Pädophilen Marc Dutroux nachspielen, regte eine internationale Debatte über die Grenzen der Kunst und die Kraft des Theaters an. Nun führt Milo Rau seine Untersuchung nach den Grenzen des auf der Bühne Ertrag- und Darstellbaren weiter, ausgehend von Pasolinis Skandalfilm „Salò oder die 120 Tage von Sodom“.
In seiner Inszenierung nimmt Milo Rau Pasolinis und De Sades Stoff frei assoziierend auf und verortet ihn in der Jetztzeit – in einem postmodernen Feudalismus, der zwischen Genusssucht und Untergangsangst, Normalisierungswahn und kleinbürgerlicher Skandallust changiert. Dabei stellen sich grundsätzliche gesellschaftliche und künstlerische Fragen: Was heißt Macht, was Voyeurismus? Wie ist es um die Würde des Lebens bestellt? Was ist normal, was abartig? Wo endet der Schmerz – und wo beginnt die Erlösung? Die Premiere wird am 10. Februar in der Box des Schiffbaus stattfinden und vorerst nur bis zum 12. März zu sehen sein.
Zu zwei Spezialeinführungen zu „Die 120 Tage von Sodom“ sind im Februar Experten der Produktion eingeladen. Am 14. Februar wird Michael Elber, der künstlerische Leiter des Theaters HORA, von der Zusammenarbeit mit Milo Rau und dem Schauspielhaus erzählen. Am 22. Februar wird Rolf Bossart, Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste im Departement „Darstellende Künste und Film“ und Mitarbeiter des von Milo Rau gegründeten IIPM – „International Institute of Political Murder“, über „Die 120 Tage von Sodom“ im Kontext von Milo Raus Theaterarbeiten sprechen.
Der Schweizer Milo Rau, geboren 1977 in Bern, studierte Soziologie, Romanistik und Germanistik in Paris, Berlin und Zürich, u.a. bei Pierre Bourdieu und Tzvetan Todorov. Seit 2002 veröffentlichte er über 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen, die an allen grossen internationalen Festivals zu sehen waren, u.a. am Theatertreffen Berlin, am Festival d’Avignon, der Biennale Teatro di Venezia, den Wiener Festwochen und dem Kunstenfestival Brüssel und weltweit durch über 30 Länder tourten. Der vielfach ausgezeichnete Milo Rau wurde zuletzt mit der Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik 2017 und dem ITI-Preis zum Welttheatertag 2016 geehrt. Rau ist nach Theaterkünstlern wie Frank Castorf, Pina Bausch, George Tabori, Heiner Goebbels oder Christoph Marthaler der bisher jüngste Träger des renommierten Theaterpreises. „Five Easy Pieces“ wurde 2016 als erste nicht-inländische Produktion
mit dem Spezialpreis der Jury der Belgischen Theaterkritik ausgezeichnet. Mit „Die 120 Tage von Sodom“ inszeniert Milo Rau das erste Mal am Schauspielhaus Zürich.
Eine Kooperation mit dem Theater HORA
DIE 120 TAGE VON SODOM
von Milo Rau nach Motiven von Pier Paolo Pasolini und Donatien Alphonse François de Sade
Text und Regie Milo Rau
Bühne und Kostüme Anton Lukas
Video Kevin Graber
Licht Christoph Kunz
Dramaturgie Stefan Bläske, Gwendolyne Melchinger
Recherche, dramaturg. Mitarbeit Rolf Bossart, Mirjam Knapp
Mit:
Noha Badir, Remo Beuggert, Gianni Blumer, Matthias Brücker, Nikolai Gralak, Matthias Grandjean, Julia Häusermann, Sara Hess, Robert Hunger-Bühler, Dagna Litzenberger Vinet, Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch, Tiziana Pagliaro, Nora Tosconi, Fabienne Villiger
Weitere Vorstellungen im Schiffbau/Box
14./ 20./ 22./ 25. Februar, jeweils 20.15 Uhr
1./ 3./ 6./ 8./ 10./ 12. März, jeweils 20.15 Uhr
5. März, 19.15 Uhr