Die Brisanz der Themen um Flucht, Zukunftsangst und Migration ist gegeben und in Verbindung mit dem Buch, den täglichen Berichten aus Libyen und den immer wiederkehrenden Tragödien vor und auf Lampedusa sehen wir Bilal als wichtiges Stück für die deutsche und deutschsprachige Theaterlandschaft und die gesellschaftliche Diskussion.
Bilal ist ein Illegaler, einer von diesen armen Teufeln, die für ihr letztes Geld auf klapprigen Lastwagen und Fischerbooten aus Afrika nach Europa flüchten. Aber in Wahrheit ist Bilal der italienische Journalist Fabrizio Gatti, der sich unter die Migranten gemischt hat, um zu erleben, was sie erleben und davon zu erzählen. Unter unvorstellbaren Entbehrungen durchqueren sie zu Tausenden die Wüste. Schlepper und korrupte Polizisten wechseln sich darin ab, den Flüchtlingen ihre letzte Habe zu nehmen. Viele stranden, manche Spur verliert sich für immer, und wer die gefährliche Überfahrt in viel zu vollen Booten übers Meer überlebt, den erwarten Auffanglager, die Menschenkäfigen ähneln. Doch auch wenn sie abgeschoben werden: Sie werden wiederkommen, solange sich das Elend in ihrer Heimat nicht ändert – „Eine erschütternde Odyssee“ (Corriere della Serra).
Welche Konsequenzen hat die Abschottungspolitik der EU? Vor welche Gewissensfragen stellt uns der moderne Menschenhandel?
Ein möglichst düsteres Bild der nahen Zukunft entwerfen, um den Menschen Angst zu machen, um sofort darauf zu kommen, dass man derjenige ist, der diese Entwicklung verhindern kann – das ist seit jeher ein beliebtes Mittel im politischen Kampf um Zustimmung in der Bevölkerung. Nach dieser
Methode hat Europa seine Einwanderungspolitik in den vergangen 30 Jahren sukzessive verschärft. Gipfel dieser Entwicklung war das Freundschaftsabkommen zwischen Italien (mit Billigung der EU) und Libyen von 2006, nach dem die EU überlegt, das Waffen- und Wirtschaftsembargo zu lockern oder gar aufzuheben, wenn sich Libyen im Gegenzug verpflichtet, illegal eingewanderte Ausländer zurückzunehmen und in ihre jeweiligen Heimatländer weiterzuschicken.
Seitdem werden im Einklang mit der Politik der EU illegal eingereiste Ausländer im Auffanglager auf der italienischen Insel Lampedusa interniert. Dieses Lager steht auf der ganzen Linie im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, der alle EU-Staaten im Rahmen ihrer UN-Mitgliedschaft beigetreten sind. Flüchtlinge haben das Recht auf freien Zugang zu einem Gericht, auf Ausstellung eines Ausweises, auf Schutz vor Ausweisung und Diskriminierung – all dies verweigert der italienische Staat. Im Übrigen hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) das Recht, die Einhaltung der Konvention jederzeit zu überprüfen – auch das wird verweigert.
Dabei ist es nachgewiesen, dass Zuwanderung wirtschaftlich von Vorteil ist – ganz abgesehen von der humanitären Pflicht, notleidenden Menschen zu helfen. So haben die erwerbstätigen Ausländer in Deutschland im Jahr 2000 ein Bruttosozialprodukt (BSP) von ca. 128 Milliarden Euro erarbeitet. Damit
lag das BSP sechs Prozent höher als ohne Ausländer. 1991 zahlten die Ausländer 6,5 Milliarden Euro in die Rentenversicherung ein, erhielten aber nur 1,9 Milliarden an Renten ausgezahlt, trugen also wesentlich zur Stabilität unserer Sozialversicherungssysteme bei. Gerade die Türken - mit 2,1 Millionen die größte Gruppe der 7,4 Millionen Ausländer in Deutschland - sind zunehmend erfolgreiche Unternehmer, die über 160 000 Arbeitnehmer beschäftigen. Das Rheinisch-Westfälische Institut hat nachgewiesen, dass die ausländischen Arbeitskräfte, die zwischen 1988 und 1992 in die deutsche Wirtschaft integriert wurden, allein 1992 durch ihren Beitrag 90.000 neue Arbeitsplätze entstehen ließen.Unter diesen Gesichtspunkten bekommt das vorangestellte Zitat aus dem „West-östlichen Divan“ von Goethe eine sehr greifbare Bedeutung.
Außerdem weist Deutschland seit Jahren ein Migrationsdefizit auf, das heißt, dass mehr Menschen auswandern als einwandern. Und nicht einmal der Anteil an Ausländern ist in den letzten hundert Jahren gestiegen. Der lag nämlich 1910, in der „guten, alten Zeit“, mit 6,5 von 65 Millionen bei 10% der
Gesamtbevölkerung. Heute leben 7,32 Millionen Migranten in Deutschland, das sind nur 8,9 Prozent der Gesamtbevölkerung. Stellt sich also die Frage: Wem nützt die aktuelle Politik in Sachen Einwanderung?
Um die Frage beantworten zu können, muss man zunächst beleuchten, welche Auswirkungen eine restriktive Einwanderungspolitik hat. Einwanderung verhindern kann sie nämlich nicht. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass die Abschottung der südlichen Außengrenzen nur dazu geführt hat, dass sich die „Reisekosten“ für die Migranten etwa verzehnfacht haben. Während man früher für ca. 500 Euro aus Afrika nach Europa fliegen konnte, kostet heute die Reise durch mehrere afrikanische Staaten, im LKW durch die Sahara und auf Fischerbooten übers Meer dank „Schlepper- und Bestechungsaufschlägen“ rund 5000 Euro – mal ganz abgesehen davon, dass sie viel gefährlicher ist als
jeder Flug. Also sind die ersten Nutznießer der, übrigens auch von den ehemaligen deutschen Innenministern Schily und Schäuble propagierten, Politik die Schlepperbanden, die angeblich bekämpft werden sollen.
Des weiteren profitieren Arbeitgeber aus den Bereichen der Landwirtschaft, der Gastronomie, der Dienstleistungsbranche ganz erheblich von der billigen Arbeitskraft derer, die es bis nach Europa schaffen. Und es wäre naiv anzunehmen, dass die Geschäftsführer italienischer und spanischer
Großbetriebe der genannten Branchen keinen Einfluss auf die nationale Politik hätten. Allerdings handelt es sich hier um einen illegalen Arbeitsmarkt, der einer Volkswirtschaft massiven Schaden zufügt.
Alles in allem lässt sich also sagen, dass wir schon allein aus wirtschaftlichen Gründen einen liberalen Umgang mit Immigration ausdrücklich fördern müssten. Die Entscheidung der Bundesregierung aus dem November 1973 – zeitgleich mit dem Anwerbestopp – die in Deutschland lebenden Ausländer vor die Entscheidung zu stellen, dass sie sich auf ein Land festlegen müssten, in dem sie in Zukunft leben wollen – also bleiben oder zurückgehen – hat das Problem der sogenannten Integration erst geschaffen. Es gibt zahllose Beispiele aus der Geschichte, die zeigen, dass nicht regulierte Migration für
alle Beteiligten Vorteile hat.
„So, du kannst also unterscheiden zwischen Himmel und Hölle?“ (Pink Floyd)
Diese zwei Zeilen gehen Fabrizio Gatti nicht mehr aus dem Kopf, während er als kurdischer Flüchtling Bilal getarnt nachts im Auffanglager auf Lampedusa wach liegt und im Radio der Wachen der berühmte Pink-Floyd-Song „Wish You Were Here“ läuft. Mitten unter lauter Entrechteten liegt er, der europäische Journalist, und wird sich schlagartig der größten Gefahr seines eigenen Unternehmens bewusst. Ein paar Monate zuvor hatte er sich auf den Weg gemacht, um in der Maske eines waghalsigen Touristen mit afrikanischen Flüchtlingen die Sahara zu durchqueren. Auf jedem Lastwagen reisen bis zu 200 Menschen. Wer unterwegs verschütt geht, ist verloren. Soldaten und Polizisten knöpfen jedem Reisenden sogenannte Schutzgebühren ab. Wer nicht genügend Wasser dabei hat, kann nur beten. Wer Durchfall hat, soll nicht glauben, dass das den Fahrer des LKW im Geringsten kümmert. Wer sich nicht, sei es schlafend oder wachend, am Nachbarn festhält, läuft Gefahr herunterzufallen – auch das ist für den Fahrer kein Grund anzuhalten.
Vom Senegal an der Atlantikküste über Mali bis nach Agades im Niger hatte er bereits knapp 4.000 Kilometer unter abenteuerlichen Bedingungen zurückgelegt. Hatte Menschen getroffen, deren letzte Hoffnung auf einem klapprigen, alten Peugeot liegt, der ihnen als Personentransporter ein kleines Einkommen beschert. Junge Männer, die nicht einmal mehr diese Verdienstmöglichkeit haben und sich deshalb auf den langen Weg nach Europa machen. Frauen, die glücklich über einen Job als Kellnerin sind, obwohl sie nur mit einem Bett und etwas Essen entlohnt werden – immer noch besser als sich zu prostituieren. Aber das war nur das „Vorprogramm“. Ab Agades, am Südrand der Wüste, kommt nur noch weiter, wer genug Geld dabei hat und die Fähigkeit besitzt, sich gegen Schwächere durchzusetzen, ohne dabei aufzufallen. Auf dieser vorletzten Etappe bis an die libysche Mittelmeerküste
geht es nur noch ums nackte Überleben. Und danach kommt noch die Überfahrt nach Lampedusa auf einem morschen Fischerboot, das beim ersten Sturm kentern kann.
Von all diesen Dingen berichtet Gatti mit seiner Innensicht so eindrucksvoll, dass man als Leser einem ständigen Wechselbad der Gefühle ausgesetzt ist. Mal schämt man sich, Europäer zu sein, mal möchte man vor lauter ohnmächtiger Wut verzweifeln. Aber – und das ist eben die perfide Gefahr –
selbst „Bilal“ kann von Politikern als Alibi benutzt werden, nach dem Motto: „Schaut, wie frei und demokratisch wir sind, wir erlauben unseren Journalisten, unsere Politik offen und schonungslos zu kritisieren.“ All diesen Zweifeln zum Trotz verfolgt Gatti seinen Weg und veröffentlicht 2007 (auf Deutsch im Frühjahr 2010) seine Reportage, denn wie ein sudanesischer Flüchtling bei einem nächtlichen Gespräch zu ihm sagt: „Unsere einzige Chance auf Rettung besteht darin, dass ihr in Europa erfahrt, was hier geschieht.“
Peter Hilton Fliegel
Regie Eva Lange
Bühne & Kostüme Diana Pähler
Dramaturgie Peter Hilton Fliegel
Gatti Sven Brormann
Frau 1 Sara Spennemann
Frau 2 Amélie Miloy
Mann 1 Cino Djavid
Mann 2 Klaus Ebert
Mann 3 Christian Simon
Mann 4 Sebastian Moske
Mann 5 Fabian Monasterios
Mann 6 André Lassen
Spieltermine im Stadttheater Wilhelmshaven:
Fr., 03.02.2012 / 20.00 Uhr
Mo., 06.02.2012 / 20.00 Uhr
Mi., 15.02.2012 / 20.00 Uhr
So., 26.02.2012 / 15.30 Uhr
Spieltermine im Spielgebiet
Fr., 27.01.2012 / 19.30 Uhr / Theater auf der Werft Papenburg
Mi., 01.02.2012 / 19.30 Uhr / Theater an der Blinke Leer
Di., 14.02.2012 / 20.00 Uhr / Neues Theater Emden
Do., 16.02.2012 / 20.00 Uhr / Aula Brandenburger Str. Wittmund
Fr., 17.02.2012 / 20.00 Uhr / Theater am Dannhalm Jever
Di., 21.02.2012 / 19.30 Uhr / Kurtheater Norderney
Di., 28.02.2012 / 19.30 Uhr / Theodor-Thomas-Halle Esens