In Sidi Larbi Cherakaouis jüngstem Stück "Origine" (Uraufführung war am 7.2.08 in Antwerpen) treffen Orient und Okzident, Mittelalter und Gegenwart aufeinander. Für seine Choreographie hat er sich zunächst von den Liedern der Hildegard von Bingen inspirierein lassen, wobei im Verlauf der Erarbeitung des Stückes das Musikrepertoire um christliche, arabische und sephardische Musik des Mittelalters erweitert wurde, deren Bindeglied die gleiche Epoche ist. Die Musik wird live von dem Ensemble Sarband unter der Leitung von Vladimir Ivanoff vorgetragen. Die libanesische Sängerin Fadia Tomb El-Hage und die schwedische Sängerin Miriam Andersén singen engelgleich und durch den Halleffekt fühlt man sich in einen hohen Kultraum versetzt.
Wie beim Titel "Origine" zu erwarten, beginnt das Stück mit der Erschaffung der Welt. Der Tänzer Shawn Mothupi formt einen imaginären Weltenball, den er dann wie in einem Handballspiel handhabt, ihn in die Luft wirft, wieder auffängt, mit ihm drippelt. Ein Tierwesen bewegt sich auf die Bühne, das Gesicht mit seinem langen Haaren bedeckt, in einer Art Affenfell, beeindruckend von Valgerður Rúnarsdóttir dargestellt. Ein Mensch erlegt dieses Tier und zieht sich den Affenmantel über. Der Abriss der Evolutionsgeschichte beschleunigt sich. Daisy Phillips zeigt einen artistisch vom Yoga inspirierten Tanz. In einer anderen Szene wird der menschliche Körper (Kazutomi Kozuki) zum Ding und Werkzeug als Lippenstift und Stöckelschuh, Telefon, in einer akkuraten Abfolge zum Haushaltgerät - erst als Waschmaschine, dann als Wäscheständer, schließlich als Bügelbrett und –eisen. Das ist gekonnt und wunderbar gespielt. Die Schikanen einer Passkontrolle werden gezeigt. Fremdsein und Vereinsamung in der modernen Zeit werden thematisiert. Die hintere Bühnenwand ist in vier weiße Wände geteilt, vor der sich und hinter der sich als Schattenriss die vier Tänzer bewegen und uns an den alltäglichen Verrichtungen teilnehmen lassen. Der Videoscreen zeigt eine belebte Einkaufstraße in einer ostasiatischen Stadt mit zu vielen Neonschildern, durch die sich Kozuki schlängelt. Zum Schluss werden die vier Wände von Computerbildschirmmasken mit zahlreichen Überblendungen gefüllt, wir sind in der Jetztzeit angekommen, zu sehen ist ganz klein auch eine Abbildung von Gustave Courbets Aktbild "Ursprung der Welt".
Im Grunde genommen beschäftigt sich Cherkaoui in seinem Stück mit den bekannten philosophischen Fragen, woher wir kommen, wer wir sind und wie wir zu dem geworden sind, was wir sind. Das wird die ganze Zeit still beobachtet von einer Figur (Skulptur oder Puppe) am linken Bühnenrand. Verdienter, enthusiastischer Beifall für eine beeindruckt getanzte und durchdachte Inszenierung.
Künstlerische Leitung, Choreografie: Sidi Larbi Cherkaoui
Choreografische Assistenz: Nienke Reehorst, Satoshi Kudo;
Choreografie, Tanz: Kazutomi Kozuki, Daisy Phillips, Valgerður Rúnarsdóttir, Shawn Mothupi
Musik: Hildegard von Bingen, Rabi’a van Basra, Lieder aus der maronitischen und syrischen Tradition, gesungen von Frauen, frühbyzantinische Lieder von unbekannten Komponistinnen
Live-Musiker: Ensemble Sarband, Fadia Tomb El-Hage (Gesang), Miriam Andersén (Gesang, gotische Harfe), Vladimir Ivanoff (musikalischer Direktor, Arrangements, Percussion, Laute)
Kostümdesign: Isabelle Lhoas, Frederick Denis
Lichtdesign: Enrico Bagnoli
Puppenmacher: Filip Peeters
Dramaturgie: Guy Cools
Dauer: ca. 75 min. ohne Pause