"Wir sehen, daß in dem Maße, als in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt", schreibt Heinrich von Kleist 1810 in seiner kleinen Studie über das Marionettentheater, in der er Überlegungen zu Korrespondenzen zwischen Bewegungen der Marionetten und Tänzern anstellt. Als ästhetisches Kriterium hebt er Ruhe, Leichtigkeit und Anmut hervor und sieht als vortrefflichste Eigenschaft die Fähigkeit, dem bloßen Gesetz der Schwerkraft zu folgen.
Es liegt nahe, sich noch einmal mit Kleists Studie zu beschäftigen, wenn man das zweiteilige Stück "Dark Matters" von Crystal Pite, mit dem sie im Mai 2010 im Tanzhaus NRW gastierte, gesehen hat. Denn der erste Teil, nennen wir ihn konkretes Vorspiel, beschäftigt sich in theatralischer Art mit der Anfertigung einer Stabmarionette durch einen Puppenmacher. Der uralte Wunsch des Menschen, selbst Schöpfer zu sein, wird Wirklichkeit. Die Marionette erwacht zum Leben, lässt sich aber nicht mehr beherrschen. Der Versuch, sie zu vernichten, scheitert. Stattdessen wird der Puppenmacher in einem dramatischen Kampf selbst zum Opfer und seine Welt fällt mit lautem Getöse zusammen. Crystal Pites Kompagnie Kidd Pivot führt diese Geschichte mit grandiosen, märchenhaften Bildern vor. Die Puppe, meisterhaft an Stäben geführt, wirkt wie beseelt, so dass sie als ebenbürtiger Partner des Akteurs aufzutreten vermag. Beeindruckend auch die integrierten Schattenspiele. Auf Englisch gesprochene Auszüge aus Voltaires "Poème sur le désastre de Lisbonne" verkünden, dass dem Menschen sein Schicksal und er sich selbst unbekannt sei. "Man is a stranger to his own research; He knows not whence he comes, nor whither goes".
Das ist zugleich auch das Motto des zweiten Teils von "Dark Matters", in dem die Geschichte fortgeführt wird. Schöpfung, Selbsterkenntnis, Schicksal, die grundlegenden philosophischen Fragen des Wer, Woher, Wohin werden hier behandelt. Es ist der Versuch, die Grazie mittels Erkenntnis zu erlangen, um in den Stand der Unschuld zurückzukehren und damit das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt aufzuschlagen. Was im ersten Teil erzählerisch dargebracht wurde, wird jetzt tänzerisch reflektiert. Dabei zeichnet sich der Tanz durch fließende Bewegungen in absolutem Synchronismus kontrastiert durch marionettenhafte Bewegungen in einer perfekten Choreografie aus. Crystal Pite und ihrer Kompagnie gelingt es, die Seele des Tanzes in faszinierenden Bildern sichtbar zu machen. Eine gelungene, beglückende Arbeit. Daher gab es auch stürmischen Beifall für diese überaus sehenswerte Aufführung.
Choreografie: Crystal Pite
mit: Eric Beauchesne, Peter Chu, Yannick Matthon, Crystal Pite, Sindy Salgado, Jermaine Spivey
Komposition: Owen Belton
Licht: Rob Sondergaard
Bühne: Jay Gower Taylor
Kostüme, Bühnenelemente: Linda Chow
Requisiten: Robert Lewis; Text: Auszüge aus dem Gedicht "Poème sur le désastre de Lisbonne" von Voltaire; zusätzliche Musik: "Sleep" von Eric Withacre
Dauer: 120 Min. inkl. Pause
Mai 2010