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Das Jüdische Theater Austria präsentiert: WIEN MEIN WIEN

Dokumentarfilm, Uraufführung: Dienstag 11.11.2008, 20 Uhr

Admiral Kino, 1070 Wien, Burggasse 119

 

Thema des experimentellen Dokumentarfilms WIEN MEIN WIEN ist eine [auto]biografische Spurensuche faschistoider Prägungen aus der NS-Zeit, die sich in einer Wiener "Mehrheitsgesellschaft" auf die erste Folgegeneration mit ihrer Jugend in den 60er/70er Jahren bis hin in die vierte Folgegeneration übertragen haben.

 

 

Welche Verdrängungsmythen tragen Angehörige der österreichischen "Mehrheitsgesellschaft" in ihrem alltäglichen Denken, im alltäglichen Handeln, in ihren Erinnerungen, in den Überlieferungen durch die Familie - noch heute? Wie gehen Folgegenerationen einer TäterInnen- und MitläuferInnengesellschaft mit historischer Verantwortung um?

 

Konzept, Regie, Compositing, Editing: Alexandra Reill

Kamera: Thomas Königshofer, Alexandra Reill

Produktion: kanonmedia, Wien 2008

 

Zur Eröffnung sprechen

Thomas Blimlinger, Bezirksvorsteher Neubau

Warren Rosenzweig, Jüdisches Theater Austria

 

Diskussion

Nach dem Film besteht die Möglichkeit, Fragen zum Thema und zum Film gemeinsam mit der Filmemacherin Alexandra Reill, Eva Brenner, Fleischerei Projekt Theater Studio, und Warren Rosenzweig, Jüdisches Theater Austria, zu diskutieren.

 

Moderation: Ulli Fuchs, Projektleitung Erinnern für die Zukunft

 

***

 

Näheres zum Kontext - die Geschichte einer Familie

 

Alexandra Reill ist die Tochter einer deutschen Frau, die in einer Hochburg der Nazis – Nürnberg - aufwuchs und in ihrer Jugend im Zweiten Weltkrieg nach Wien in eine Rechtsanwaltsfamilie heiratete – einen attraktiven blonden Mann heiratete, den sie in einem Kriegsverwundetenlazarett am Tegernsee kennen gelernt hatte, in dem sie als Krankenschwester tätig gewesen war. Kaum ausgewandert in die Richtergasse im siebten Wiener Bezirk, musste sie erleben, wie ihre Jugendliebe mit der Schreibmaschine, mit der sie schon damals Geld verdienen konnte, diesem Symbol einer Existenz und einer Geliebten aus Wien floh, um einen Brief zu hinterlassen, der der jungen Gattin erklärte, dass die Heirat überstürzt gewesen sei. Aus Liebe, wie sie immer sagte, hatte sich die Frau scheiden lassen.

 

Erst als sie in ihren Dreißigern war, lernte sie den Vater der Filmemacherin kennen und wurde für viele Jahre seine Geliebte. Als sie schwanger wurde, bekannte sich der Vater nicht zu dem unehelichen Kind, und weil die Mutter alleine den Lebensunterhalt bestreiten musste, gab sie das Baby zu einer Kagraner ArbeiterInnenfamilie in Pflege, wo das Mädchen ihre ersten sechs Lebensjahre verbrachte, in einer sozialistischen Familie. Erst mit Schulbeginn wurde das Kind wieder „in die Stadt“, in die inzwischen angemietete große und bürgerliche Wohnung auf der Mariahilfer Straße übersiedelt und wohnte fortan bei der Mutter, die das Kind in eine katholische Klosterschule einschrieb, damit es eine gute Erziehung erhalte.

 

Am Ende jedes Horttages, um 17:00, saß die Kleine regelmäßig als letzte in der Garderobe, denn die Mutter machte täglich Überstunden und konnte das Kind nicht pünktlich von der Schule abholen. Doch der heiß geliebte Pflegegroßvater aus Kagran, ein Opa, wie er im Märchenbuch steht, fuhr jeden Tag mit „dem 25er“ eine Stunde lang von Kagran nach Neubau, um, bestückt mit einer Wurstsemmel oder Schwedenbomben, das Mädchen rechtzeitig abzuholen und auf sie aufzupassen, bis die Mutter müde von der Arbeit erst abends nach Hause kam. Dann stieg er wieder in „den 25er“ und fuhr eine Stunde lang zurück nach Hause – eine Weltreise zwischen zwei völlig verschiedenen Welten.

 

Die 70er Jahre und damit die Jugend der Filmemacherin beinhalten die Erinnerungen an eine eng befreundete Mädchenclique, die nicht aufhörte, der Mutter vorwurfsvolle Fragen über den fehlenden Widerstand gegen die Nazis zu stellen. „Man habe nichts gewusst“ war die Standardantwort, die nie von den Jugendlichen geglaubt wurde, und deren Zorn mit der immer wieder, in einer Regelmäßig- und Unverrückbarkeit gegebenen Antwort wuchs, so lange, bis die Jugendlichen schließlich nichts mehr von dem Thema hören wollten – in dem Anspruch, zu dieser Zeit nicht geboren gewesen zu sein und daher keine Verantwortung für das geschehene Grauen zu tragen.

 

Der geliebte Großvater starb zu Beginn der Neunziger Jahre, der Kontakt zur Pflegefamilie wurde loser, doch jeweils zu den Weihnachtsfeiertagen treffen sich seine echten Enkeln und die Filmemacherin als Pflegekind zu Kaffee und Kuchen und schauen alte Fotos an.

 

Weihnachten 2007, rd. 20 Jahre nach dem Tod des Großvaters: der Filmemacherin fallen Fotos aus dem Krieg in der Hand, sie wundert sich, wie adrett die Großmutter, eine Schneiderin aus Ottakring, und die gemeinsame Tochter gekleidet gewesen waren, sogar mit Pelzkragen – die Not sei doch groß gewesen, die Familie nicht wohlhabend, im Gegenteil. Wie sehr sich die Schneiderin wohl hatte anstrengen müssen, um solch adrette Kleidung zu nähen. Ihre – wären sie verwandt, wäre sie ihre – ältere Schwester erzählt, dass die Familie im Krieg keine Not gelitten habe, der Großvater sei an der russischen Front gewesen und habe immer Pakete geschickt. Wie hatte er das nur zuwege bringen können? Nun, er war ja von Beruf Handelsreisender, da muss man schon geschickt sein, nun, das war er wohl auch im Krieg gewesen

 

Ein verblichenes Dokument … die Schwester mit nun schon über 50 Jahren und Brille kann es nicht richtig lesen, die Protagonistin hilft ihr, den alten Stempel und die Kurrentschrift zu entziffern: Entnazifizierungsbescheid.

 

Der Großvater wurde des Verdachts auf SA-Scharführerschaft freigesprochen, nicht jedoch des Verdachts auf SA-Rottenführerschaft.

Belegt. Bewiesen. SA-Rottenführer.

 

Der heiß geliebte Großvater, der Märchenopa, der Sozialist. Daher stammten also die Pakete, daher die adrette Kleidung. Daher die Antwort, die er ihr als Kind immer gegeben hatte, wenn sie nach dem Krieg gefragt hatte: frage nicht, es war sehr grausam, frage lieber nicht. Mehr hatte er nie gesagt.

 

Wen sollte sie nun mehr entlasten – die Mutter, die als „brave“ Deutsche „nie von etwas gewusst hatte“ oder nun den Märchenopa, bei dem es so etwas nie gegeben hatte und der nun in der Biografie der Protagonistin und lange nach seinem Tode - erst dann für sie - SA-Mann war.

 

Nun ist sie in der Rolle der Täterin – wie hat sie umzugehen mit der Liebe eines Kindes zum allerbesten Großvater, den es auf der Welt nur geben kann, nun, da sie weiß, dass er SA-Mann war? Wie verändert sich diese Liebe? Was verändert die Tatsache? In einem autobiografischen Interview hinterfragt die Protagonistin ihre Identität – als Angehörige einer TäterInnen- und MitläuferInnengesellschaft, als Kind einer ersten Folgegeneration.

 

Diese Spurensuche wird gegen geschnitten zu Interviews mit anderen Angehörigen von Folgegenerationen, die danach befragt wurden, welche Erinnerungen Menschen an die Vorkriegszeit, den Anschluss und die Kriegszeit tragen. Welche Erzählungen wurden von den Eltern, Groß- oder Urgroßeltern überliefert?

 

Die Interviews belegen den so kollektiven wie anhaltenden Bestand von Verdrängungsmythen wie sie die Protagonistin aus ihrer Familie kennt. Der Gegenschnitt deckt gängige Aussagen, gängige Mythen auf – Erzählungen, von denen ein Kind denkt, dass sie persönliche sind, um als Erwachsene/r festzustellen, dass viele dieser Erzählungen deckungsgleich mit den Erinnerungen anderer MehrheitsösterreicherInnen sind, keine persönlichen Erzählungen, Aussagen einer Mehrheitsgesellschaft, Aussagen einer mehrheitlich TäterInnen- und MitläuferInnengeneration, Aussagen, die heute noch immer präsent sind in einer alltäglichen Sprache.

 

Unterstützung

kanonmedia dankt der freundlichen Unterstützung der Bezirksvorstehung Neubau, Kulturabteilung der Stadt Wien, dem Jüdischen Theater Austria, dem Admiral Kino und dem Projekt Erinnern für die Zukunft der Bezirksvorstehung Mariahilf sowie allen GesprächspartnerInnen, die über ihre Erinnerungen und Überlieferungen aus der Familie ein Interview für den Film gegeben haben.

 

Rückfragen

 

kanonmedia

ngo for new media

 

alexandra reill

call: ++43[0]6991 820 70 03

mailto: alexandra.reill@kanonmedia.com

visit: www.kanonmedia.com

 

 

 

 

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