Tschechow ist im Moment auf den deutschen Schauspielbühnen der meistgespielte Autor. Offensichtlich treffen seine genialen Stimmungsbilder einer stagnierenden Gesellschaft heute einen empfindlichen Nerv. Er schrieb sie zur Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Wir haben schon die nächste Jahrhundertwende hinter uns, leben in einem scheinbar total anderen Zeitgefühl, und können uns trotzdem an Tschechow nicht sattsehen. Sehnsucht und Verzweiflung loten seine Stücke aus, Hoffnung und Resignation. Teufelskreise werden vorgeführt. Neue Ideen, die sich nicht durchsetzen, alte Rechthaber, die nicht in den Hintergrund treten wollen. Lähmende Konstellationen. Aufschwünge, die misslingen. Enttäuschungen, die tödlich sind.
"Die Möwe" wird seit Jahresbeginn gleich in mehreren grossen Theatern aufgeführt. Das Stück handelt vor allem von Künstlern und ihren verschiedenen Ansichten über die Kunst.
Wie ein Wirbelsturm fällt die berühmte Moskauer Schauspielerin Irina Arkadina jeden Sommer in der Theaterpause auf dem provinziellen Landgut ihrer Familie ein. Sie hat ätzende Starallüren, alles muss nach ihrem Kopf gehen, alle muss sie beherrschen. Besonders sensibel ist sie nicht, aber sie besitzt einen untrüglichen Instinkt für das, was ihr gut tut.
Gut tut ihr vor allem ihr Freund, ein bekannter Schriftsteller, der es zähneknirschend in ihrem Schlepptau aushält und immer an ihrer Seite ist. Weniger gut tut ihr der eigene Sohn, der selbst dichterische Ambitionen hegt. In revoluzzerischer Leidenschaft lehnt dieser Sprössling alle momentan gefeierte Kunst ab und sucht fieberhaft nach neuen Formen. Deshalb fühlt Irina sich alt in seiner Gegenwart, deshalb hält sie ihn sich vom Leib, wo sie kann, begegnet ihm mit Unverständnis und treibt ihn damit zur Verzweiflung. Gar nicht gut tut ihr Nina, genannt die Möwe, das künstlerisch begabte, sehr junge Nachbarstöchterlein, das von ihrem Sohn geliebt und von ihrem Freund begehrt wird.
Der Schluss der Geschichte tut Irina Arkadina wieder gut, sie hat alles hingebogen. Nina hat ihr zwar vorübergehend den Freund ausgespannt, aber das endete traurig und mit Entfremdung, er kehrte reuig zu seiner Diva zurück. Nina, die Möwe mit den gebrochenen Flügeln, ist eine unbedeutende Provinzschauspielerin geworden. Irinas Sohn hat zwar als Autor Fortschritte gemacht, aber er scheitert an seiner unerwiderten Liebe zu Nina, seiner Möwe. Er ist zu schwächlich, um seine revolutionären Ideen von einer neuen Kunst auch wirklich zu realisieren. Die übrigen Landbewohner leben weiterhin ihr verschlafenes Landleben. An alldem wird auch eine Tragödie nichts ändern.
"Monster sind besonders langlebig, und Irina ist ein Monster". So äusserte sich kürzlich der berühmte Regisseur Luc Bondy, der in Wien eine gefeierte "Möwe"-Inszenierung gezeigt hat. Für Düsseldorf hat sich Anna Badora dem Stück gewidmet. In wahrstem Sinn des Wortes. Ihre Inszenierung ist keine neue künstlerische Vision, keine Eigenmächtigkeit. Sie spürte den Menschen und ihren Beziehungen nach, behutsam, sensibel, wie eine Wünschelrutengängerin im Dschungel der Tschechowschen Schmerzenswelt. Die wundervollen Gespräche, die angerissenen und abgebrochenen Leidenschaften, alles wurde genau und getreulich nachgezeichnet.
Das ist sehr viel. Badoras Inszenierungen sind immer beeindruckend ehrlich. Sie erzählen nicht nur vom jeweiligen Werk, sondern auch von der Schwierigkeit, einem Werk gerecht zu werden. Sie gaukeln kein Patentrezept vor und berühren mich deshalb eigentlich immer bersonders tief.
Diesmal hatte ich freilich das Gefühl, dass längst nicht das ganze Team diese feine Arbeit zum Blühen bringen konnte. Irina Arkadina (Andrea Bürgin) rettet sich in konventionelle Darstellungsabläufe ohne Strahlkraft. Nina,die Möwe, (Julia Grafflage) ist der Vielschichtigkeit ihrer Rolle in keiner Weise gewachsen.
Markus Boysen als seufzender Freund Irinas ist allerdings eine sehr starke Figur. Zwischen diesen Polen bewegen sich die übrigen Darsteller, aus denen Ernst Alisch als zynischer Landarzt hervorragt.
Das Bühnenbild, grau in weiss mit durchsichtigem Mittelsteg, wirkte nicht besonders inspirierend.
All dies zusammengenommen tauchte die Inszenierung in ein schönes aber stumpfes Licht.
Tschechows Ratlosigkeit! Sie nicht nur zu zeigen, sondern auch schöpferisch zu gestalten ist ungeheuer schwer. Das Premierenpublikum belohnte den aufrichtigen Versuch mit großem Beifall.
"Die Möwe" von Anton Tschechow im Düsseldorfer Schauspielhaus, Großes Haus,
Premiere am 24. März 2001