Wenige Wochen vor seiner Ermordung war er Gast einer politischen Talkshow im türkischen Privat-fernsehen gewesen, deren Gegenstand Artikel 301 des türkischen Gesetzbuchs war und in der er indirekt bedroht wurde.
Für § 301 – Die beleidigte Nation nehmen die KünstlerInnen Züli Aladağ, Mıraz Bezar, Silvina Der-Meguerditchian, Hans-Werner Kroesinger und Hakan Savaş Mican – fünf Jahre nach Dinks Ermordung – diese Talkshow als Ausgangs-punkt für eine persönliche Auseinandersetzung mit Bruchlinien innerhalb der türkischen Gesellschaft und stellen Fragen nach Nationalismus, Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit, die uns alle angehen.
Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalver-sammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizor-gane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. (Türkisches Strafgesetzbuch, Artikel 301, Absatz 1, Fassung 2008)
Der Art. 301 TCK geht auf den Art. 159 des alten türkischen Strafgesetzbuches zurück, das 1936 weitgehend vom italienischen „Codice Rocco“ Mussolinis kopiert und seitdem häufig verändert wurde. Bis zur Aktualisierung im Jahr 2008 stellte der 2005 eingeführte Artikel 301 „die Beleidigung des Türkentums“ unter Strafe.
Für einen Zeitungsartikel vom 13. Februar 2004 wurde Hrant Dink am 8. Oktober 2005 als erster explizit wegen „Beleidigung des Türkentums“ nach Artikel 301 zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Wenige Wochen vor seiner Ermordung war Dink Gast einer politischen Talkshow im türkischen Privatfernsehen gewesen, in der er indirekt bedroht worden war. Gegenstand der Talkshow war Artikel 301 des türkischen Gesetzbuchs.
Fünf Jahre danach widmet das Ballhaus Naunynstraße den Performance-Abend § 301 – Die beleidigte Nation nun seinem Gedenken und unserem Denken: Die bildende Künstlerin Silvina Der-Meguerditchian rückt mit ihrer Videoarbeit DEEP SEA FISH verborgene Schichten ehemaligen Istanbuler Lebens ins Licht. Der Filmemacher Züli Aladağ sucht in Momentaufnahmen der Talkshow NEDEN („Warum“) das neuralgische Moment eines Lan-des und thematisiert mit dem Völkermord eines seiner größten Tabus. In THE TV NEXT DOOR untersucht der Theaterregisseur Hans-Werner Kroesinger, was es bedeutet, wenn das von Hrant Dink eingeforderte Recht auf Kritik zu uns nach Hause übertragen wird, in die Wohnung unseres Nachbarn, und öffentliches Sprechen einen Mann zur Ziel-scheibe macht. Der Film- und Theaterregisseur Mıraz Bezar bringt mit SPIEGELUNGEN in Gedanken die Protagonisten des Mordes zusammen und richtet seinen Blick auf die Be-trachter der Geschehnisse. Hakan Savaş Mican, Film- und Theatermacher, inszeniert in REACHING THE LEVEL OF CONTEMPORARY CIVILIZATIONS 2 die nationale Sehn-sucht nach einer rein türkischen Automarke als ein Gedankenspiel über Ersoy, das erste türkische Auto, und seine verwirrte Fahrt durch die verlorenen Städte und Straßen Anato-liens.
Im Foyer des Ballhaus Naunynstraße sind für die Dauer des Projektes Silvina Der-Merguerditchians Werke Repression Carpet (2002) und Made in Turkey (2005) zu sehen sowie neue Arbeiten der Reihe Geleerte Wörter - Geleerte Bilder, die speziell für § 301 entstehen.
Der fünfte Jahrestag seiner Ermordung am 19. Januar steht ebenfalls ganz im Zeichen des Gedenkens an Hrant Dink. Neben einer Lesung aus dem Roman Die Richter des jüngsten Gerichts des Schriftstellers und Menschenrechtlers Doğan Akhanlı zeigt das Ballhaus den in Cannes mit einer goldenen Palme prämierten Kurzfilm Chienne d’histoire (Hundeelend) von Serge Avédikian. Der Abend wird von der Sängerin Alina Manoukian musikalisch umrahmt, die am 29. Januar auch mit einem Solo-Konzert im Ballhaus Naunynstraße zu erleben ist.
5 PERFORMANCES
VON ZÜLI ALADAĞ, MIRAZ BEZAR, SILVINA DER-MEGUERDITCHIAN, HANS-WERNER KROESINGER, HAKAN SAVAŞ MICAN
DRAMATURGIE: TUNÇAY KULAOĞLU, IRINA SZODRUCH
MIT: ZÜLİ ALADAĞ, MELEK ERENAY, FABIAN JOEST PASSAMONTE, MURAT
KARABEY YILMAZ, PETER VON STROMBECK, PAUL WOLLIN, MEHMET YILMAZ
VORSTELLUNGEN: 15. und 20.-22.1.2012, 19 und 21.30 Uhr, 16.-18.1.2012, 20 Uhr
Ein Projekt von Kultursprünge im Ballhaus Naunynstraße gefördert durch die Einzelprojektförderung des Landes Berlin und den Fonds Darstellende Künste