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Verschwundene Welt -- "Anatevka" in der Deutschen Oper am Rhein

Im russischen Zarenreich etwa um 1905 ist das Dorf Anatevka Heimat für eine jüdische Gemeinschaft, die geprägt ist von religiösen Traditionen. Diese beinhalten nicht nur Rituale und Verhaltensregeln, sondern stärken auch den Zusammenhalt und bieten Sicherheit. Jeder kennt jeden, Klatsch und Tratsch gedeihen. Das Dorf Anatevka ist eine Fiktion, von Scholem Alejchem für seine Geschichten über den Milchmann Tevje erdacht, beruht aber auf realen Lebenswelten wie sie im osteuropäischen Raum vor 1945 existierten. Auch Marc Chagalls Bild "Der Geiger", das einen Fiedel spielenden Mann zeigt, der mit einem Fuß auf dem Dach eines Dorfhauses steht, bezieht sich auf diese ostjüdische Schtetl-Welt. Beides, Bild und Erzählungen, ist Grundlage für eines der beliebtesten und am meisten gespielten Broadway-Musicals "The Fiddler on the Roof" von Jerry Bock, Joseph Stein und Sheldon Harnick. Das 1964 uraufgeführte Stück ist derzeit wieder in der Deutschen Oper am Rhein in einer Inszenierung von Felix Seiler zu sehen.

 

Copyright: Sandra Then

Hauptfigur ist der Milchmann Tevje, ein armer, gutmütiger, pfiffiger, humorvoller, allseits beliebter Mensch, dessen Zitate aus der Thora und dem Talmud nicht immer korrekt sind. Von seinen fünf Töchtern sind drei im heiratsfähigen Alter. Traditionell kümmert sich Jente, die Heiratsvermittlerin, um geeignete Kandidaten und geheiratet wird nur, wenn der Vater zustimmt. Die Töchter aber haben andere Vorstellungen und suchen sich ihre Ehemänner selbst aus, was beim Vater Gewissenskonflikte auslöst, da es sich dabei um einen Bruch mit den Traditionen handelt und da sie sich gegen seine Autorität stellen. Die Ehemänner seiner beiden ältesten Töchter Zeitel und Hodel kann er noch akzeptieren, aber als Chava hinter seinem Rücken den Goij Fedja ehelicht, verstößt er sie, weil sie sich damit gänzlich von der jüdischen Gemeinschaft entfernt. 

Diese jüdisch familiäre Geschichte ist eingebettet in humorvolle Episoden des Dorflebens. Doch das beschauliche Leben wird durch rassistische, von der Obrigkeit angeordnete gewalttätige Übergriffe bedroht. Schließlich wird die jüdische Bevölkerung aus reiner Willkür ausgewiesen, aus ihrer Heimat vertrieben und zerstreut sich in alle Himmelsrichtungen. Anatevka gibt es nicht mehr.

Die Inszenierung von Felix Seiler ist nicht folkloristisch, sondern eher zurückhaltend, sowohl was die Figurencharakterisierung betrifft als aber auch die szenische Umsetzung. Aktuelle Bezüge zu Flucht und Vertreibung werden nicht thematisiert. Die Dorfbewohner sind allesamt liebenswert gekennzeichnet, ohne Bösartigkeit, aber auch ohne besondere Auffälligkeiten, eine größere Ausdifferenzierung wäre wünschenswert gewesen. Tevje, die Hauptfigur, ist anfangs etwas zu betulich, wie gehemmt, gewinnt aber im Lauf der Geschichte an Format. Auch der pogromartige Überfall auf die Hochzeitsgesellschaft ist eher harmlos geschildert, obwohl sogar eine Geige dabei zu Bruch geht. Sehr gelungen ist die optische Umsetzung des erfundenen Tevje-Traumes mit einer leicht gruselig-lustigen Lichterscheinung der verstorbenen Großmutter. Der Fiddler ist hier eine Frau (Paula Wilkes) in schwarzer Kleidung, die oft auf der Bühne präsent ist und wie ein Fatum mitagiert. 

Die Kostüme, von Sarah Rolke kreiert, sind eher neutral ohne irgendeine zeitliche Verortung in Blau- und Brauntönen, mit Anklängen an die typische Kleidung der frommen osteuropäischen Juden, die Kleidung des Wachtmeisters mit Anklängen an die Nazi-Uniform. Für das Bühnenbild hat Nikolaus Webern eine überzeugende Symbolik für die Fragilität des Daseins gefunden. Es gibt keine gebaute Dorfkulisse. Das Dorf, setzt sich aus weißen Wäschestücken, an Leinen gehängt, zusammen. Es entsteht beim Auftreten der Dorfbewohner und verschwindet mit dem Abnehmen des letzten Tuches beim Verlassen des Dorfes, wenn die Bühne leer zurückbleibt. Ebenso überzeugend ist die Lichtsetzung von Volker Weinhart. Wenn der Milchmann Tevje im Zwiegespräch mit Gott ist, den er um etwas bittet, um Rat fragt, kritisiert, mit dem er diskutiert, fällt ein Lichtspot auf ihn, alle um ihn herum fallen ins Dunkel, bleiben in der Bewegung verharrend und stumm. Auch die Musik setzt dann aus. Das sind sehr berührende Momente. 

Neben dem Schauspieler Andreas Bittl als Tevje wirkt Rita Kapfhammer als quirlige Mutter Golde. Überzeugend besetzt und klangstark auch die Liebespaare mit Lavinia Dames als Zeitel und Roman Hoza als Mottel,, Kimberley Boettger-Soller als Hodel und Florian Simson als Perchik, mit Mara Guseynovavals Chava und Benny Meisenberg als Fedja. Ihren großen Auftritt in den Paraderollen des verschmähten Ehemannes und der klatschsüchtigen Heiratsvermittlerin haben Günes Gürle als Lazar Wolf und Morenike Fadayomi als Jente.   Wie es sich für ein Musical gehört gibt es auch choreografische Einlagen mit Tänzern, die hier teils von Klezmer-Musik begleitet, einen eindrucksvollen Hochzeitsfesttanz hinlegen.

Beim Publikum kam diese eindrucksvolle, humorvolle, menschliche und traurige Geschichte gut an, es dankte mit anhaltendem Applaus. 

Anatevka
Basierend auf den Geschichten von Scholem Alejchem
mit ausdrücklicher Genehmigung von Arnold Perl

Deutsch von Rolf Merz und Gerhard Hagen
Produziert für die Bühne in New York von Harold Prince
Original-Bühnenproduktion in New York inszeniert und choreografiert von Jerome Robbins

Jerry Bock (Musik), Joseph Stein (Buch), Sheldon Harnick (Gesangstexte)

Musikalische Leitung: Christoph Stöcker
Inszenierung: Felix Seiler
Bühne: Nikolaus Webern
Kostüme: Sarah Rolke
Licht: Volker Weinhart
Chorleitung: Patrick Francis Chestnut
Choreographie: Danny Costello
Dramaturgie: Juliane Schunke

Tevje: Andreas Bittl
Golde: Rita Kapfhammer
Zeitel / Oma Zeitel: Lavinia Dames
Hodel: Kimberley Boettger-Soller
Chava: Mara Guseynova
Sprintze: Nora Kriele
Bielke: Mara Schneider
Jente: Romana Noack
Fruma Sarah: Alina Grzeschik
Mottel: Roman Hoza
Perchik: Florian Simson
Lazar Wolf: Günes Gürle
Fedja: Benny Meisenberg
Wachtmeister: Stefan Kiefer
Rabbi: Klaus Walter
Sascha: Andrés Sulbarán
Mendel: Zhive Kremshovski
Awram: Jonas Gudmundsson
Nachum: Clemens Begritsch
Motschach: Mathias Tönges
Erste Frau: Anna Neufeld
Zweite Frau: Diana Klee
Schandel: Birte Hopstein
Eine Frau: Sylwia Siwak
Ein Mann: Klaus Walter
Fiddler: Paula Wilkes

Tänzer: 
Luca Graziosi, Lorenzo Malisan, Rodrigo Tavella, Patrick Sabel, Shin-Nosuke Nagata, Giovanni de Dominico, Evaldo de Oliviera Melo jr., Christian Meusel

Chor der deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker

 

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