In "Mythologies" erforscht Angelin Preljocai zeitgenössische Rituale und Ur-Mythen. In den versteckten Zwischenräumen unserer Existenz lauert hier auch Impressionistisches. In der Ouvertüre leben diese Mythologien tief in den Körpern der Tänzer und sie bewegen sich so, wie sich Tiere bewegen, wenn sie träumen. Bei "Le Catch" ist Wrestling laut Roland Barthes in seiner Sammlung "Mythologies" die "Comedie humaine", deren Falschheit durch die Geste des Wrestlers wahrhaftig wird. Es ist das große Spektakel des Schmerzes mit suggestiven Gesten. Bei "Le Royaume des Amazones" wird dann tänzerisch das berühmte Reich der Amazonen beschworen, das am Schwarzen Meer liegt und der griechischen Zivilisation fremd ist. Die starken und kämpferischen Frauen treten hervor. Bei "Thalestris et Alexandre Le Grand" lässt Thalestris, die Königin der Amazonen, den König von Mazedonien von dreihundert Amazonen gefangen nehmen, damit er mit ihr Kinder zeugt.
Die Bühne von Adrien Chalgard ist weiträumig, zeigt Nebelbänke und Sternenhimmel, lässt ein Gewitter hereinplatzen und die Gesicher der Tänzer erkennen. Einmal erscheint die Compagnie auch mit Pfeil und Bogen. Und die Kostüme von Adeline Andre und das Video von Nicolas Clauss unterstreichen diese irrealen Eindrücke noch. Starke Bilder zeigt auch "Zeus et Danae". Hier wird Danae von ihrem Vater eingesperrt, damit sie keinen Kontakt zu einem Mann bekommt. Doch Zeus verwandelt sich in einen Goldregen, weil er in Danae verliebt ist. Er steigt durch das Dach ein und paart sich mit ihr. So wird Perseus geboren. "Persee et les Gorgones" erzählt von Perseus, von dem König Polydekt den Kopf der Medusa fordert. Er besiegt die Gorgonen und tötet die böse Kreatur. Hier erreicht der subtile Ausdruckstanz des Ballet Preljocai einen weiteren Höhepunkt. In "Les Cretois" befinden wir uns dann in Minos' Königreich, wo sich die Kreter alle neun Jahre versammeln, um ein junges Mädchen auszuwählen, das dem Minotaurus geopfert werden soll.
Eine weitere Steigerung dieser spannungsgeladenen Handlung erfolgt bei "Le Minotaure", wo der Minotaurus in dem von Dädalus errichteten Labyrinth eingesperrt wird. Diese wilde Kreatur ist halb Mensch, halb Stier und für Menschen gefährlich. Sie giert nach Menschenfleisch. In "Eden" zeigt sich das himmlische Paradies von seiner schönsten Seite. Auch die Unschuld der Tierwelt kommt nicht zu kurz. "Ares et Aphrodite" fesselt als Pas de deux mit dem Kriegsgott Ares, der sich in Aphrodite als Göttin der Liebe verliebt. Bei "Le Danse de Naiades" überzeugt der Tanz der Nymphen in Quellen, Brunnen und Seen. Da kommen auch die fantasievollen Kostüme von Adeline Andre noch einmal voll zur Geltung. Dass es in der griechischen Mythologie vor Zwillingen nur so wimmelt, erzählt daraufhin "Les Gemeaux". Bei "Celebration Mayas" kommt es zur fröhlichen Feier des Ursprungs der Welt bei den Maya. Und "La Chute d'Icare" erzählt von Dädalus, der von Minos und seinem Sohn im Labyrinth des Minotaurus eingesperrt wurde. Er fertigte für Ikarus Flügel aus Federn und Wachs - doch Ikarus war so von seinem Flug berauscht, dass er der Sonne zu nah kam. Das Wachs schmolz und er stürzte ins Meer.
Im Finale wird ganz im Sinne von Emmanuel Levinas das Antlitz des Menschen präsentiert, man gewinnt einen ethisch erhabenen Eindruck. Diese Szene gehört überhaupt zu den stärksten Eingebungen dieser Choreografie. Die Aussage ist klar: Das Gesicht ist das, was man nicht töten kann. Innige Liebe und rohe Gewalt stehen dicht beieinander. Großer Jubel im Forum.