
Da spielt im weiträumigen Bühnenbild von Saskia Wunsch das Universum zunächst eine große Rolle. Auch die Kostüme von Claudia Irro und Bettina Werner erinnern an ein Astronauten-Outfit. Der zahlungsunfähige General amüsiert sich mit der Französin Blanche und wartet ungeduldig auf die Nachricht von einer Erbschaft. Vom Marquis lässt er sich Geld vorstrecken. Alexej ist sehr in die Stieftochter des Generals, Polina, verliebt, was die Inszenierung immer wieder grell hervorhebt. Polina bringt Alexej schließlich dazu, in ihrem Auftrag und mit ihrem Geld Roulette zu spielen. Als die todkrank geglaubte Verwandte Babulenka in Roulettenburg auftaucht und ihr Vermögen beim Roulette auf Null setzt, löst sich alles im Nichts auf.
Der zweite Teil der Aufführung spielt also in einem Roulette-Saal und überzeugt hier mehr als der erste. Denn jetzt fliegen tatsächlich Geldscheine herab und die Gäste tanzen wie besinnungslos auf einem riesigen Roulette-Tisch hin und her, was den Zuschauer durchaus fesselt. Das Netz der subtilen Beziehungen wird so auf die Spitze getrieben. "Rien ne va plus" lautet das vielsagende Motto. Das Ende ist trist: Als Alexej aus dem Spielsalon zurückkehrt, will er Polina Geld anbieten, was diese ablehnt. Für einen Augenblick träumen beide davon, ein gemeinsames Leben zu beginnen. Doch Polina kommt zu einer anderen Entscheidung. Sie lässt den nur ins Geld verliebten Alexej schließlich allein zurück.
Musikalisch kann diese packende Aufführung ebenfalls überzeugen. Unter der elektrisierenden Leitung von Nicholas Carter musiziert das Staatsorchester Stuttgart sehr feinnervig. Pauke, Große Trommel und Tuba charakterisieren treffsicher den General. Die subtile Ostinato-Technik wird immer wieder auf die Spitze getrieben. Auch die Wiederholung von Motiven im Orchester erhält bei dieser Wiedergabe subtilen Zugriff. Das sich ständig verändernde Tempo bekommt bei Nicholas Carter zündende Funken, die den Hörer unmittelbar mitreissen. Auch der Wechsel von Komik, Groteske und intensiven melodischen Kantilenen gelingt spannend. Davon profitieren die Sängerinnen und Sänger ganz erheblich. Goran Juric kann als bassgewaltiger und fulminanter General und Alter Spieler ebenso überzeugen wie die expressive Sopranistin Ausrine Stundyte als voluminös und ausdrucksstark agierende Polina. Auch Daniel Brenna als Alexej fesselt mit glutvollen tenoralen Höhenflügen, die sich dynamisch ständig steigern. Veronique Gens liefert als Babulenka und Suspekte Alte ebenfalls ein treffsicheres Rollenporträt. Als Marquis und Erfolgloser Spieler gefällt ferner Elmar Gilbertsson. Shigeo Ishino imponiert im Goldgewand als unnahbarer Direktor des Casinos und Mr. Astley. Als Dame comme ci comme ca beweist Stine Marie Fischer einmal mehr ihre gesangliche Präsenz. In weiteren Rollen begeistern Robin Neck als Fürst Nilski und Hitziger Spieler, Peter Lobert als Baron Wurmerhelm und Dicker Engländer sowie Jacobo Ochoa als Patapytsch und Langer Engländer.
Ein grandioses Team bildet dann die Roulette-Truppe im zweiten Teil. Neben Hojong Song als Erstem Croupier und Ilja Werger als Zweitem Croupier zeigen Olga Paul als Aufgetakelte Dame sowie Catriona Smith als Blasse Dame famose Leistungen. Simone Jackel kommt als gewitzte Respektable Dame noch hinzu. Alexander Efanov als Krankhafter Spieler, Alexey Shestov als Buckliger Spieler und die sechs Spieler Ivan Yonkov, Juan Pablo Marin, Stephan Storck, Kyung Won Yu, Heiko Schulz und Yehonatan Haimovich treiben das Geschehen mit enormer Präsenz immer wieder an. Ganz versteckt erkennt man Assoziationen zur "Liebe zu den drei Orangen". Die rasche Folge von Rezitativ und Arioso, Solo und Chor sorgt für atemlose Spannung. Der sarkastische und draufgängerische Elan Prokofjews als revolutionäres "enfant terrible" sticht hier deutlich hervor! Die nie um eine bestechende Lösung verlegene Fantasie des Harmonikers feiert Triumphe. Dafür sorgt auch der hervorragende Staatsopernchor Stuttgart (Einstudierung: Manuel Pujol). Der stürmische Schwung des Rhythmikers Prokofjew erreicht mit dynamischer Vehemenz einen Gipfel.
Die unglaubliche Hysterie am Roulette-Tisch bricht mit unmittelbarer Gewalt hervor. Man denkt an die riesigen Spielhallen im Casino Baden-Baden oder Wiesbaden, wo Dostojewskij immer wieder große Geldsummen verspielte. Die große Vielseitigkeit der Melodien Prokofjews erhalten eine starke Intensität. Sie wirken eigentlich unimpressionistisch und besitzen gläserne Konturenschärfe. Viele der Themen erscheinen auch kühl-objektiv und kristallklar. Prokofjew wurde wegen modernistischer Tendenzen immer wieder kritisiert. Nicholas Carter stellt als Dirigent die revolutionäre Zukunftsmusik Prokofjews ins Zentrum. Russische Melismatik, berührende Nähe zum Volkslied und kühn-farbige Harmonik beeindrucken das Publikum auch bei dieser rasanten Aufführung ungemein.
Die als Rondo angelegte Roulette-Szene gerät zum Höhepunkt, ein Ritornell charakterisiert treffsicher den hüpfenden Ball und ein drehendes Rad wird durch ein spezielles Motiv mit Schlagzeug ausgesprochen eindringlich beschrieben. Die Protagonisten springen auf diesem riesigen Tisch wie Heuschrecken hin und her. Man spürt bei dieser Interpretation, dass diese Musik aus den Martellato-Passagen des Klaviers entwickelt ist. Das extreme und kontrastreiche Handlungstempo kommt so hervorragend zum Vorschein. Zuletzt steht der verbale Schlagabtausch zwischen Polina und Alexej im Zentrum des Geschehens. Der General ist hier ein Romantiker, der in einer großen tragischen Opernszene Abschied von seinen Träumen nehmen muss. Diese Szene gewinnt durch Goran Juric großes Format. "Bravo"-Rufe und starker Schlussapplaus.