Man sieht nackte Nonnen auf Rollschuhen, erlebt heftige lesbische Szenen und erkennt vor allem das Leiden der Nonnen wegen des Verzichts auf Sexualität, das immer wieder hervorbricht. Unter der inspirierenden Leitung von Marit Strindlund entfaltet die eruptive Musik Paul Hindemiths ihre vitale Kraft. Da bittet die von Born in Flamez und Caroline Melzer leidenschaftlich verkörperte Nonne Susanna ihre Mitschwestern schließlich, sie aufgrund ihrer sexuellen Vergehen einmauern zu lassen. Eine Beichte lehnt sie ab. Das Geschehen eskaliert gleich zu Beginn in dramatischer Weise. Man sieht ein bedrohliches Mauergerüst, das schließlich von einer schreienden Nonne eingerissen wird. Stilisierung und Formenstrenge stechen durchaus hervor. So ergeben sich hier immer wieder fesselnde Ensemblewirkungen zwischen den strengen Nonnen und den nackten Frauen, die gegen diese spartanische Welt verzweifelt rebellieren.
Allerdings dominieren bei dieser Aufführung Anfang und Schluss - der Zwischenteil fällt dramaturgisch zuweilen ab, weil zwischen den einzelnen Szenen oft der Zusammenhang fehlt. Die subtil verdichtete Form und ungemeine Leuchtkraft der Orchesterfarben kommt dennoch nicht zu kurz, denn das Staatsorchester Stuttgart sowie die Sängerinnen des Staatsopernchores Stuttgart bieten an diesem Premierenabend eine fesselnde Leistung. Marit Strindlund vermag es als Dirigentin, die verschiedenartigen Klang- und Ausdruckscharaktere sinnvoll und packend herauszumeisseln. Kontrapunktisches Gegeneinander und gegenseitige geistige Durchdringung schaffen atemlos-mitreissende Szenen, die sich tief einprägen. Dazu gehört auch der skurrile Auftritt von Jesus Christus, der plötzlich wieder da ist. Eine riesige Kirchenglocke wird von einer darin hängenden Protagonistin eingeläutet. Weihrauchdüfte strömen in den Zuschauerraum, Emma Rothmann beschwört als Alte Nonne wiederholt die Auferstehung des Herrn.
Nonnen befinden sich im Zuschauerraum, schon vor dem Beginn der Aufführung erscheinen sie im Opernfoyer. Aus dem Reigen weiterer Darstellerinnen ist noch Florentina Holzinger selbst zu nennen. Im Hintergrund wird von den Frauen sogar ein riesiges Klettergerüst erobert. Gewiss besteht die Gefahr blasphemischer Passagen, die aber gegen Ende aufgrund einer sehr starken Spiritualität abgemildert werden. Elemente der Pop- und Rockmusik vermischen sich mit der feierlichen Messe von Charles Gounod, die mit wunderbarer harmonischer Durchsichtigkeit dargeboten wird. Johanna Doderer hat die Musik von Gounod und Rachmaninow in raffinierter Weise in ihre eigene Messe integriert, deren dynamische Intensität sich ständig steigert. Auch die Musik von Johann Sebastian Bach wird sensibel in den weiteren Ablauf eingebunden. Bühne und Kostüme von Nikola Knezevic und das Videodesign von Maja Cule gewinnen starke Ausdruckskraft, obwohl auch schmerzhafte Piercingszenen gezeigt werden.
Im Bühnenhintergrund zerbricht allmählich das riesige Gemälde mit Gott und Adam von Michelangelo - so entsteht eine geradezu gespenstische Atmosphäre, die niemanden kalt lässt. Doch zuetzt geschieht das Wunder einer allgemeinen Rückbesinnung zu Gott, eine Art kollektive Auferstehung, die dann doch überzeugt. Natürlich übt Florentina Holzinger feministische Gesellschaftskritik, geisselt geradezu die Verbotsrituale der katholischen Kirche, dunkelste Abgründe werden systematisch durchdrungen - nicht nur beim immer wiederkehrenden Symbol des Kreuzes. Diese Vision der heiligen Messe zwischen Glaube, Sexualität, Schmerz, Scham und Befreiung wächst zu einer kollektiven Beschwörung heran, die diesen Frauen neue Türen öffnet.
1921 ist die Uraufführung dieser zwanzigminütigen Oper "Sancta Susanna" von Paul Hindemith mit dem revolutionären Text von August Stramm übrigens in Stuttgart verhindert worden, auch der Vatikan protestierte gegen spätere Aufführungen. Religiöse Gewalt der heiligen Messe wird hier zum Spektakel, Magie erscheint durchaus als Wunder. Liturgische Hits setzen sich fast ultimativ durch. Im Programmheft ist nachzulesen, dass der Philosoph Alain de Botton an der Strenge der Kirche auch Gutes fand, da sie mahnend auf die Gefahren der Sexualität hinweist. Das wird in Florentina Holzingers Performance deutlich thematisiert. Die Qualen körperlichen Schmerzes werden nicht geleugnet.
Das expressionistische Spannungsfeld zwischen Zölibat und Lust ist hier wirklich monströs. Beim Publikum kam diese Performance nicht nur als Plädoyer für die lesbische Liebe jedenfalls sehr gut an. Es gab lauten Jubel und großen Schlussapplaus. Manchmal denkt man auch an Pendereckis "Teufel von Loudun".