
Die Tochter tritt sein Erbe an, um seine Inszenierung zu retten. In den Probennächten taucht sie in die Geschichte des alten Königs Lear ein. Auch die schwierige Beziehung zu ihrem Vater spielt dabei eine große Rolle. Die Töchter sollen vor der Aufteilung des Erbes ihre Zuneigung zu ihm bekunden. Im weiträumigen Bühnenbild von Wolfgang Menardi und den dazu passenden Kostümen von Zana Bosnjak sieht man ein großes Standbild - man könnte meinen, dass es den König in früheren Jahren darstellt. Während die Töchter Goneril und Regan ihre Liebe zum Vater bezeugen, verweigert sich die jüngste Tochter Cordelia dieser Zeremonie. Daraufhin wird sie von König Lear verstoßen.
Die Veränderung dieser Situation betrifft dann auch das Bühnenbild, das sich ständig und unruhevoll dreht. Karin fragt sich selbstquälerisch, wie viel sie ihrem todkranken Vater schuldig ist. Damit verschwimmen auch Gegenwart und Vergangenheit. Personen und Ereignisse des "Lear" sind bei Falk Richter keine übertreibende Erfindung, sondern kontrollierbare Realität. Die Verlorenheit des Menschen und die Zerbrechlichkeit der Welt kommt drastisch zur Geltung, auch wenn man sich stellenweise in einer Casting-Situation wiederfindet. Es dominiert also das Theater im Theater. Und neben einem TV-Host treten sogar Comedians auf. Dies schwächt das Übermaß an tragischem Geschehen ab.
Doch Andre Jung als Lear und Regisseur Thomas Lind gelingt es überzeugend, diese Figuren für ihre Charakterfehler schwer und erschütterrnd büßen zu lassen: "Es ist der Fluch der Zeit, dass Irre Blinde führen." Im zweiten Teil dominiert zu Beginn Nebelatmosphäre und ein geheimnisvoller goldener Reif wie ein Wink des Schicksals. Viele schwarze Totenköpfe liegen auf dem Boden, die auf den Tod König Lears und seiner Töchter hinweisen. Das Drama einer lieblosen Gesellschaft wird schon bei der Blendung Glosters durch Goneril und Regan auf die Spitze getrieben. Es existiert keine Mutterfigur und es gibt auch die klassische bedingungslose Mutterliebe nicht. König Lear hat sich laut Falk Richter nicht darum gekümmert, wer seine Töchter wirklich sind und muss dafür büßen. Falk Richter stellt sich hier die zentrale Frage, ob Kinder ihren Eltern das vergeben müssen, was sie ihnen angetan haben.
Dabei geht es in diesem Stück aber auch um Karin Lind. Kann sie ihrem Vater, der sie schlecht behandelt hat, am Ende doch vergeben? Shakespeares Sprache ist in diesem Drama besonders dicht und genau, was durch die hinzugefügten Texte von Falk Richter noch verstärkt wird. Die atemberaubende Lebendigkeit der Szenen kommt mit einigen Abstrichen auch hier zur Wirkung - etwa dann, wenn man den sterbenden Lear auf dem Krankenbett oder um seine toten Töchter weinen sieht. Cordelia, die als Gattin des Königs von Frankreich ihren Vater retten will, findet den Tod, nachdem sie zuvor mit Lear gefangen wurde. In der Schlacht zwischen dem König von Frankreich und den von Edmund geführten Scharen Gonerils und Regans siegt Edmund, Glosters unehelicher Sohn. Diese Handlungsfelder lässt Falk Richter eher im Hintergrund spielen.
Andre Jung macht plastisch deutlich, dass Lear diesen letzten Schicksalsschlag psychisch nicht mehr übersteht. In weiteren Rollen fesseln Sylvana Krappatsch als Karin Lind, Rainer Galke als Graf von Gloster, Felix Strobel als Glosters Sohn Edgar, David Müller als Edmund sowie Michael Stiller als Graf von Kent und Narr. Katharina Hauter als Goneril, Josephine Köhler als Regan und Mina Pecik als Cordelia liefern packende Charakterporträts. Der polyphone Motivreichtum des Stücks findet seinen abrupten Schlusspunkt, wenn Goneril und Regan sich gegenseitig vergiften. Unter allen Verbrechern Shakespeares ist Edmund allerdings die schwärzeste Seele, was David Müller plastisch deutlich werden lässt. Als engelsgleicher Jüngling ist er Shakespeares boshaftester Mann.
Man hat Shakespeare sogar Frauenhass vorgeworfen, was nicht haltbar ist, da er mit Cordelia ein eigentlich zartes Frauenbildnis zeichnet, was bei der Inszenierung zur Geltung kommt. Dass die Verwandlung des Königs, des Vaters, des Menschen hier ein zentraler Punkt ist, sticht bei der Aufführung ebenfalls leuchtend hervor. Shakespeare kommt dabei ebenso als Komödiant zu seinem Recht, der sich zwischen Comedians wiederfindet. Die ständige Metamorphose ist das Geheimnis des "panta rhei". Das Fließen, Wirbeln, Sichverändern und Sichverlieren zeigt sich grell vor allem in der grandios gestalteten "Sturm"-Szene, wo der von seinen Töchtern verstoßene Lear ziellos auf der Heide herumirrt.
Niels Bormann, Nils Buchholz, Mira Fajfer, Orit Nahmias, Frank Willens und Idil Baydar zeichnen als Comedians bei "Hallo, Stuttgart" ein groteskes Bild dieser Stadt. Marietta Meguid mimt sarkastisch den TV-Host. Und Karl Leven Schroeder schlüpft virtuos in die Rollen von Gonerils Haushofmeister Oswald sowie dem Assistenten der Regisseurin Lucas. Die Musik von Daniel Freitag sowie die suggestiven Video-Effekte von Stefano DiBuduo schaffen eine subtile Atmosphäre zwischen Realität und Fiktion. "Wir können nichts als trauern. Und dieses Reich von seinen Wunden heilen", verkündet Edgar lakonisch am Ende. Dass das Geheimnis des Menschen immer wieder seine Verwandlung ist, macht diese Inszenierung trotz mancher Schwäche sehr gut deutlich. Am Schluss viel Applaus und "Bravo"-Rufe.